Zwischen Salinger und Hegemann. Jugendrevolte im Roman
Von Susanne Krones (Neue Gesellschaft Frankfurter Hefte 4/2010, S. 60ff.) – »Weißt du, ich will mich einfach nur bei mir selbst dafür entschuldigen, dass gerade all die meinem späteren Ich gegebenen Versprechungen von irgendeinem tauben Wind in Stücke gerissen werden. (…) Ich glaube ehrlich gesagt, ich will mir damit irgendetwas beweisen.« So formuliert Mifti, Heldin von Helene Hegemanns umstrittenem Debütroman Axolotl Roadkill die Motivation, ihre Geschichte aufzuschreiben: als eine Rechtfertigung vor ihrem zukünftigen Ich, die alle Kompromisse entschuldigen soll, die das Erwachsenwerden Mifti abringt. Hegemanns Debüt dominierte die Feuilletons wie kein anderer Roman der letzten Monate: Seine Autorin wurde gefeiert als Nachfolgerin Salingers und anderer weltliterarischer Wortführer der literarischen Jugendrevolte und verdammt als Plagiatorin.
Über den Status von Hegemanns Text zwischen origineller Schöpfung und Plagiat, Remix und Sampling lässt sich in einem urheberrechtlichen und ästhetischen Sinn lange debattieren. Dass Hegemann mit Axolotl Roadkill allerdings alles andere als die Salinger-Nachfolge antritt, liegt auf der Hand; ebenso, dass es keine Auflehnung gegen die Erwachsenenwelt ist, wie sie Salingers Fänger im Roggen auszeichnet, die sich in Hegemanns Roman artikuliert – obwohl davon oberflächlich viel die Rede ist.
Salingers Holden und Hegemanns Mifti, die beiden Protagonisten, sind Altersgenossen, die beiden Debütanten zum Zeitpunkt ihrer Debüts allerdings sind es nicht: Salinger war 32, als er 1951 mit dem Fänger im Roggen debütierte, Hegemann legte ihr Debüt Axolotl Roadkill mit 17 vor. Während Salinger seinem jugendlichen Helden über fünfzehn Jahre Lebenserfahrung voraus hat, hat Hegemann keinen Altersabstand zu ihrer Erzählerin Mifti. Der fehlende Abstand zwischen Autorin und Erzählerin gibt dem Roman scheinbar Authentizität, tatsächlich aber kostet er die Autorin die Souveränität, die für eine Protesthaltung nötig ist.
Dazu kommt: Hegemanns Debüt ist gemacht von einem erwachsenen Literatur- und Medienbetrieb, der es für seine eigenen Zwecke instrumentalisiert, die Autorin benutzt und durch die Nähe zu ihrer Erzählerin verletzbar macht. Eine Verletzbarkeit, die Hegemanns Heldin Mifti eindrucksvoll beschreibt: »Es ist gefährlich, das zu tun, was ich will, weil mich das wirklich verletzbar macht. Es zulassen, ist vollkommen unmöglich. Deshalb lüge ich dich an.« Die Stimme einer jungen Autorin würde anders gehört, wenn sie in einem Nischenverlag abseits der großen Bühnen des Betriebs erschienen wäre; so allerdings, vom Anfang an im Scheinwerferlicht und nach den Regeln des Spitzentitelmarketings entdeckt, umgesetzt und inszeniert, muss die Verletzbarkeit von Anfang an einkalkuliert und durch verstellte Stimme abgeschirmt werden. Der Jugendprotest, der als der Protest Hegemanns verkauft wird, setzt sich nicht ab von der Erwachsenenwelt, er wird von der Erwachsenenwelt inszeniert, von Verlagen, Kritikern, einem Elternhaus, das ebenfalls im Betrieb verortet ist.
Jugendprotest, von Erwachsenen inszeniert
Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang des Sprechens mit verstellter Stimme auch Hegemanns Verfahren der Intertextualität: Sie habe seit einiger Zeit »die wildesten Krebsdiagnoseträume«, so Mifti, »keine Alpträume, sondern irgendwas Tiefergehendes, wo ich dann immer schreiend erwache, weil so viele Gedanken da sind, dass man seine eigenen Gedanken gar nicht mehr von den fremden unterscheiden kann.« Mifti wird selbst zum Material dessen, was sie hört, liest und wiedergibt, bis die eigenen Gedanken ununterscheidbar mit den fremden verschwinden. Sie findet sich nicht in diesem Prozess, sie verliert sich.
Auch Salingers Protagonist Holden ist psychisch labil und schreibt seine Erinnerungen während eines Aufenthalts in einer psychiatrischen Klinik; drei Tage sind es, die er minutiös nachzeichnet, in denen Holden Schule schwänzend durch Manhatten irrt. Nach Hause wagt er sich nicht, weil er mit Ende des Jahres an der vierten Schule gescheitert sein wird. Holdens Jugendrevolte richtet sich gegen Erwachsene, »phonies«, deren erwachsener Status sich nicht über Alter, sondern über eine innere Ausrichtung definiert: Im Gegensatz zu Jugendlichen, die – ebenfalls unabhängig von ihrem Alter – nett, verständnisvoll, fähig zu echtem Mitleid sind, sind die Erwachsenen verlogen, affektiert und kalt. Holdens gleichaltrige Freundin Sally ist für Holden die »queen of the phonies«, während sein früherer Englischlehrer ihn vom Wesen her an seine über alles geliebten kleinen Geschwistern – Nesthäkchen Phoebe und seinem an Leukämie verstorbenen Bruder Allie – erinnert.
Die kleine Phoebe ist es auch, die Holden dazu bringt, sich mit seiner Situation auseinanderzusetzen: Sie ist es, die er heimlich besucht. Phoebe versteht sofort, dass ihre großer Bruder wieder von der Schule geflogen ist, macht ihm Vorwürfe und konfrontiert ihn mit der Frage, ob er überhaupt ein Ziel habe, irgendetwas, was Bedeutung für ihn sei. Holden skizziert ihr eine Fantasie: Er stellt sich vor, dass er Kinder in einem Roggenfeld Fangen spielen sähe, das direkt an einer Klippe liegt, und er stellt sich vor, derjenige zu sein, der die Kinder davor bewahren würde, in den Abgrund am Ende des Feldes zu fallen. Auch Hegemanns Mifti formuliert eine solche Fantasie: »Ich will ein Kinderheim in Afghanistan bauen und viele Anziehsachen haben. Ich brauche nicht nur Essen und ein Dach über dem Kopf, sondern drei titanweiß ausgestattete Villen, jeden Tag bis zu elf Prostituierte und ein mich in plüschigen, güldenen Zwanziger-Jahre-Chic hüllendes Sowjet-Uniform-Kostüm von Chanel. Begriffe wie Selbsterfahrung und Borderline gibt es dann nicht mehr. Und keinen, der so tut, als würde er dich besser kennen als du selbst, denn alles, was da zählt, ist Geld. Jetzt haben wir es.« Hegemanns Allmachtsfantasie ist materieller und oberflächlicher als das poetische Bild von Salingers Fänger im Roggenfeld.
Ihr Roman ist kein Generationenbuch im engeren Sinn eines jugendlichen Idealismus, der sich von der Erwachsenenwelt abgrenzt. Obwohl auch Hegemann sich explizit von der Erwachsenenwelt und dem eigenen Erwachsenwerden distanziert, ist ihr Roman mehr der einer unmöglichen Adoleszenz innerhalb eines geschlossenen Milieus als ein Generationenbuch. Hegemanns Axolotl Roadkill ist ein Roman, der die Schwierigkeiten der Jugendrevolte in der bundesdeutschen Gesellschaft dieser Jahre zeigt: Wie soll es Jugendrevolte noch geben in einer Zeit, in der Generationenunterschiede verblassen und in der auch Erwachsene nicht mehr erwachsen werden?
»Ich weiß komischerweise genau, was ich will: nicht erwachsen werden«, so Hegemanns Mifti. »Ich werde in wenigen Jahren nicht mehr genug Kraft haben, um mir ernsthafte Gedanken über die Farbe meines ersten, eigenständig gekauften Sofabezuges machen zu können. Ich werde (…) mich zu Tode schämen für alles, was ich hier gerade so (…) in diesen Computer reinhacke (…) weil ich andere Maßstäbe und meine Familie umgebracht haben werde und plötzlich weiß, dass das hier gerade, also dieser aus unstrukturierten Tagesabläufen und Schulverweigerung und verschwitzten Bettlaken zusammengesetzte Müllberg, die beste Zeit meines Lebens war.«
»Kein sanfter Regen, sondern etwas, das folgenschwer durch die Knochen geht«
Für Mifti hat Erwachsenwerden offenbar vor allem mit einer permanenten und sinnentleerten, nie an ein Ende kommenden Reflexion über die richtige Farbe des Sofabezugs zu tun. So das Ergebnis ihrer Beobachtung der nicht erwachsenwerdenden Erwachsenen, die sie umgeben. Salingers Holden, für den Erwachsensein vor allem eine Sache des innersten Wesens ist, eine Kälte, die sich über die jugendliche Seele legt, ist unausgesprochen klar, dass diese Verwandlung nicht eintreten muss. Eigentlich will er Abhauen und von seiner Schwester Phoebe Abschied nehmen, als er sich an deren geliebten Karussell mit ihr verabredet. Doch als Phoebe mit gepacktem Koffer vor ihm steht, um ihn zu begleiten, begreift er, dass er sie nicht allein lassen kann. Während die Kleine Runde um Runde auf dem Karussell dreht, steht Holden bis auf die Knochen nass, aber glücklich im Regen: Durch die Übernahme der Verantwortung für Phoebe hat er seine Depression überwunden, ist in einem wirklichen Sinn erwachsen geworden, ohne dabei abzustumpfen, wie er es an den »phonies« immer gehasst hat. Dieser Regen, der Salingers Helden bis auf die Knochen durchnässt, aber das erfolgreiche Ende einer gelungen Jugendrevolte markiert, ist Regen von ganz anderer Art als der, der gegen die Fenster von Hegemanns Figuren schlägt: »Das ist kein sanfter Regen sondern etwas, das folgenschwer durch die Knochen geht, der Himmel färbt sich dunkelrot, du sitzt in deinem Multimediasessel in Lederoptik, du kannst dich nicht bewegen, und wenn du aufstehst, bist du tot. Wenn der Film reißt, zerfällt die Welt«. Hier scheitert eine Jugendrevolte, die nie eine war, innerhalb eines Milieus, in dem Generationengrenzen nicht mehr existieren: Entwicklung findet nicht mehr statt, Weltbezug erfolgt nur noch medienvermittelt. Der Multimediasessel wird zur Falle, die lebenslang bindet, was für ein bewusstes Leben unabdingbar ist: Aufmerksamkeit, Wahrnehmung, Reflexion.
Der Artikel ist erstmals erschienen in Neue Gesellschaft Frankfurter Hefte 4/2010, S. 60ff.