Wie viel Ökonomie verträgt die Wissenschaft?

Politik muss mehr sein als Ökonomie: Seit Gesine Schwan als Kandidatin für das Amt der Bundespräsidentin nominiert und verstärkt ins Blitzlicht der Medien gerückt ist, ist dies ihr zentraler programmatischer Satz. Eher unbemerkt von der breiten Öffentlichkeit hat die Politikwissenschaftlerin bereits vor längerer Zeit ihr Wissenschaftsverständnis ähnlich prägnant formuliert: Auch Wissenschaft ist mehr als Ökonomie. Ihre These: Ohne ein religiöses Fundament und ohne die Sehnsucht nach Wahrheit verrät die Wissenschaft ihre eigenen Ideale und verkommt zum Erfüllungsgehilfen der Wirtschaft.

Eine auf den ersten Blick verstörende Aussage, gerade für junge Wissenschaftler, die von der Wissenschaft vielleicht gerade deswegen fasziniert sind und sie als Berufsweg in Auge fassen, weil in ihren Augen Freiheit bedeutet, Raum lässt für Offenheit und Neugier – und im Ergebnis verlässliche Erkenntnis verspricht. Religion assoziert man dagegen mit einengender Autorität, Tradition, Gewohnheit und Gehorsam, mit ungeprüften, weil unprüfbaren Inhalten, die es zu ‚glauben’ gilt. All das ist selbstverständlich auch Schwan bewusst. Und dennoch hält sie ihre These dagegen: „Die gegenwärtige Wissenschaft braucht Religion zu ihrer Befreiung.“

Eine Denkfigur, so scheint es, die umkehrt, was man gewöhnlich als Aufklärung beschreibt: Die Entwicklung, die die Wissenschaft von der Religion befreit und sie damit erst zu sich selbst gebracht hat. Doch was die Hochschullehrerin Gesine Schwan, derzeit Präsidentin der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder, aus diesem Gedanken entwickelt und u.a. unter dem Titel „Das zerstörte Tabu“ am 5. Januar 2003 in der Süddeutschen Zeitung veröffentlicht hat, ist weit mehr als eine abstrakte Gedankenspielerei. Es ist ein Plädoyer für einen bewussteren Umgang mit etwas sehr Kostbarem, das derzeit als sichtlich bedroht gelten kann: der Freiheit der Wissenschaft.

Forschungsfreiheit? War gestern.

Spätestens gegen Ende ihres Studiums bekommen Studierende und Graduierte, die wissenschaftlich arbeiten und eine Promotion in Angriff nehmen möchten, hautnah mit, dass Wissenschaft nicht im luftleeren Raum betrieben wird. Mit seiner fachlichen Neugier und persönlichen Begeisterung sieht man sich einem anfangs unüberschaubaren Dickicht aus rechtlichen und ökonomischen Faktoren gegenüber – und beginnt zu ahnen, dass die Frage nach der Finanzierung der eigenen Promotion erst der Anfang sein dürfte von einem Netz aus Abhängigkeiten, in das das gesamte wissenschaftliche Leben eingebunden ist. Naiv, so auch Schwan, ist die Vorstellung, die individuelle Neugier der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler spiele die entscheidende Rolle: „Weichenstellend wirken vielmehr die Prioritäten derjenigen Personen und Institutionen, die die Wissenschaft finanzieren. Je kostenintensiver eine Wissenschaft ist, desto stärker schlagen diese Prioritäten durch.“ Das dürfte insbesondere für die Medizin, die Natur- und Ingenieurwissenschaften gelten.

Die absehbare wirtschaftliche Rentabilität wissenschaftlicher Ergebnisse ist, so Schwan, der mit Abstand wichtigste Gesichtspunkt, der die staatliche Finanzierung in Deutschland leitet.Logisch also, vor allem aber sehr beunruhigend, dass auf diese Weise sehr leicht viele der Grundsätze auf der Strecke bleiben, die die Universitäten Studierenden als Kernelemente wissenschaftlichen Arbeitens zumindest noch in der Theorie vermitteln: Transparenz der Prämissen und Ergebnisse, ihr Rückbezug auf Gesichtspunkte und Maßstäbe, die von einem umfassenderen Wahrheits- oder Wirklichkeitsverständnis her angelegt werden könnten. Kommentiert und diskutiert wird diese Entwicklung allenfalls in den Feuilletons, die Wissenschaft hat dafür weder Zeit noch Stimme – und spart derartige Überlegungen schlicht ein. „Wissenschaftsfreiheit ist das nicht. Zu ihr gehört die Offenheit, die Kriterien für die Priorität von Feldern der Lehre und der Forschung frei zu prüfen und in eigener Verantwortung zu bestimmen – und von solcher Freiheit kann angesichts der Finanzierungsproblematik de facto nicht mehr die Rede sein“, so Gesine Schwan.

Instrumentalisierung und Partialisierung von Wissenschaft

Wissenschaft wird also zugunsten von wirtschaftlichen Interessen instrumentalisiert, zugleich wird sie partialisiert, in immer winzigere Teileinheiten aufgelöst, was viele im Studium als sehr enttäuschend erlebt haben dürften: Man arbeitet an Details, wälzt Stoffmassen, stößt dabei aber nur selten zu großen, übergeordneten Zusammenhängen vor – und wenn doch, scheint dies nur in ‚unwissenschaftlicher’, kursorischer, überblickshafter Weise möglich zu sein. Schwan beobachtet die mit der Instrumentalisierung einher gehende Partialisierung von Wissenschaft als Zeichen ihrer Unfreiheit auch in den dadurch geprägten Karrieremustern von Wissenschaftlerinnen uns Wissenschaftlern, die sie nochmals verstärken: „Wir können die sich rasant vermehrenden Veröffentlichungen inhaltlich nicht mehr überblicken oder einordnen. Die eine Hand weiß nicht mehr, was die andere tut, höchstes Spezialistentum in einer Teildisziplin geht mit höchtem Banausentum  in der Nachbardisziplin einher.“

Aus der Tatsache, dass die Wissenschaft ihr Freiheit mehr und mehr aufgegeben und ihre autonome Legitimation durch Wahrheit freiwillig durch die Legitimation durch wirtschaftlichen Erfolg ersetzt hat, ergeben sich meines Erachtens zwei Konsequenzen. Die erste: Hochschulen und Forschungseinrichtungen, die sich so verstehen, sind letztlich auch ökonomische Unternehmen; es wäre nicht mehr nachvollziehbar, weshalb sie finanziert werden sollten, begründet sich doch der Finanzierungsanspruch aus einer Leistung für die Allgemeinheit. Die zweite: Aus dem funkelnden Satz im Grundgesetz, der einen großen Teil der Faszination bewirkt, die die Wissenschaft gerade auf junge Menschen ausübt – „Forschung und Lehre sind frei“ – leitet sich nach meinem Verständnis auch eine besondere Verantwortung der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler für Welt und Gesellschaft ab.Dieser Verantwortung kann per definitionem niemand gerecht werden, der sein Handeln ausschließlich oder in erster Linie an ökonomischen Gesichtspunkten bemisst.

Demokratische Freiheit braucht Autorität aus Wahrhaftigkeit und Sachkompetenz

Freiheit und Verantwortung, zwei zentrale Begriffe für alle, die Wissenschaft als Beruf betreiben, scheinen der Wissenschaft also gerade dadurch abhanden gekommen zu sein, dass sie sich von allen Autoritäten freigestrampelt – und damit ausschließlich ökonomischen Zwängen unterworfen hat. Es gibt kaum andere als ökonomische Gründe, in die eine oder andere Richtung zu forschen. Frei ist eine Wissenschaft dann, wenn sie einer anderen Autorität als der ökonomischen gehorcht: „Demokratische Freiheit und Autorität, die sich aus Wahrhaftigkeit und Sachkompetenz speist, brauchen einander“, so Gesine Schwan. „Wenn der zentrale Grund für die Unfreiheit gegenwärtiger Wissenschaft im sozial bedingten mentalen Verlust der Verpflichtung auf eine verbindliche und umfassende Wahrheit liegt, dann wäre der Beitrag von Religion, soll sie zur Befreiung von Wissenschaft verhelfen, in einer Rückbindung an die Wahrheitsverpflichtung zu suchen.“

An dieser zentralen Stelle kommt bei Schwan die Religion ins Spiel: Wenn Wissenschaft ihre Verpflichtung auf Wahrheit erhalten will, muss sie sich auf eine wissenschaftstranszendierende, die Endlichkeit überschreitende Legitimation und Verpflichtung beziehen. Dies ist, nach Schwan, ein religiöser Akt: „Warum aber sollten wir uns eine solche absolute Verpflichtung auf die Wahrheit nicht selbst und autonom auferlegen können? Das schon innerhalb der Aufklärung und bis in die Gegenwart diskutierte Problem liegt im Widerspruch zwischen unserer menschlichen Endlichkeit und dem Absolutheitsanspruch unserer Selbstsetzung.“

Das westliche Wissenschaftsverständnis, wie Schwan es schildert, ist neben der klassischen Antike vor allem von den drei Offenbarungsreligionen geprägt: „Dazu gehört zunächst der Glaube an die Welt als eine Schöpfung, die zum Guten angelegt und von Gott in die partnerschaftliche Mitverantwortung der Menschen gegeben ist. Darin zeigt sich deren Gottebenbildlichkeit. Als Personen, deren Namen Gott kennt, tragen sie Verantwortung für ihr Leben und ihre Entscheidungen, schulden ihm und ihren Mitmenschen dafür Antwort und sind darin in Gottes Liebe und Treue geborgen, auch in ihrem Versagen und auch beim letzten Gericht. Vor diesem Horizont ist Wissenschaft gottgewollt und sinnstiftend.“

Wissenschaft ist so fehl- und korrumpierbar, wie die Menschen, die sie betreiben

Dass Schwan die Wirklichkeit als Gegenstand von Wissenschaft ebenso wie die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler selbst als Gottes Schöpfung begreift, hat in ihrer Konzeption Folgen für Forschung und Lehre: „Beide sind in die Verantwortung für eine Schöfpung genommen, die als prinzipielle gut gilt und die daher in ihrem Bestand gesichert werden muss. Jeder Eingriff muss sich die Frage nach den Folgen und deren Beherrschbarkeit sowie nach dem Heil für Mensch und Welt stellen.“ Klar, dass sich, in je größerem Maß wir aufgrund des Fortschritts unseres Wissens über die Abläufe der Natur diese technisch zu manipulieren vermögen, diese Verantwortung steigert und immer schwerer wiegt. Vielleicht zu schwer, als das ein Mensch sie tragen könnte. Viele litererarische Werke, allen voran Goethes „Faust“, spüren dieser Belastung nach, der nur Übermenschen gewachsen scheinen. Wissenschaft darf also die Endlichkeit der Menschen, ihre Fehl- und Korrumpierbarkeit nicht aus dem Blick verlieren, sonst macht sie sich schuldig.

Der Schöpfungsgedanke, so Schwan weiter, konstituiert einen zweiten wichtigen Unterschied zu einem Grundverständnis von Wissenschaft, das den Sinn von Wissenschaft vornehmlich darin findet, die Menschen „von den Schicksalszwängen der Natur zu befreien“, wie es etwa Hubert Markl formuliert. Sich die Erde untertan zu machen, bedeutet für Schwan aber nicht, die Grenzen der Natur einfach loszuwerden: „Die Alternative besteht eben nicht darin, entweder auf Freiheit und Selbstverantwortung zu bauen oder ‚sich blind hoffend und leidend dem Naturgeschehen zu unterwerfen’. Vielmehr liegt sie in einer unreflektierten, ungeprüften ‚Systemzwängen’ und Partikularinteressen unterworfenen, insofern blinden und daher unfreien Naturbeherrschung auf der einen und einer Wahrheit als ganzheilichem Horizont verpflichteten und erst dadurch freien Naturbeherrschung auf der anderen Seite. Einen solchen Horizont bietet die Religion insofern, als ihr gemäß die Sorge um das Ganze der Schöpfung den Wunsch nach Befreiung von blinden Naturzwängen immer begleiten muss. Ein religiös verankertes Wissenschaftsverständnis baut nicht naiv darauf, dass die meisten Forscher sich ‚wünschen, dass das, was sie erforschen, zum Nutzen der einzelnen Menschen wie der Gesellschaft und der Umwelt wirkt’, ohne die erkennbaren sozialen und ökonomischen Zwänge sorgfältig zu prüfen, die die Forschungseinrichtungen de facto bestimmen.“

Plädoyer für eine kreative und engagierte, offene und verantwortungsbereite Wissenschaft

Hat der auf den ersten Blick naive Ruf nach Rückbezug auf Religion anfangs verstört, beginnt Schwans Argumentation spätestens jetzt zu überzeugen, ist sie sich doch sehr bewusst, dass Wissenschaft aus sich selbst zwar keinen normativen Wegweiser, keine Orientierung am ganzheitlichen Horizont der Wahrheit haben, die Religion einzelnen Wissenschaftlern wie den Institutionen aber zu bedenken geben kann, dass Wissenschaft de facto immer in einem größeren Wirkungszusammenhang geschieht und dass es „in unserer unaufgebbaren Verantwortung liegt, diesen Zusammenhang, sowohl den innerwissenschaftlichen, als auch den mit der ausserwissenschaftlichen Welt, immer erneut analytisch zu durchdringen.“

Schwans Konzept ist damit ein sehr individuelles: Individuell im wörtlichen Sinn insofern, als es relativ einzig für sich steht und innovativ ist ohne ausschließlich modern zu sein und tiefere Wurzeln zu kappen. Individuell aber auch in dem Sinn, dass es beim Selbstverständnis des Einzelnen ansetzt, der die Wissenschaft zum Beruf gewählt hat oder mit dem Gedanken daran spielt. Um zu wirken, ist es darauf angewiesen, dass die einzelnen Akteure innerhalb der ‚Wissenschaft als Beruf’ es durchdenken und letztlich eine kreative und engagierte Wissenschaft leben und lehren. In „Das Theorem des Papageis“ schildert Denis Guedj die folgende Szene:

„Als Euklid einem Schüler gerade ein Theorem erklärt hatte, wollte dieser, ein ehrgeiziger junger Mann, von ihm wissen, welchen Gewinn er daraus ziehen könnte. Euklid rief einen Sklaven: ‚Gib ihm ein Scherflein’, befahl er diesen, ‚denn er möchte unbedingt einen Gewinn aus dem ziehen, was er gerade gelernt hat.’“
„Ich habe begriffen, Monsieur Ruche“, sagte Jonathan, indem er sich verbeugte.
Dann wandte er sich an Léa: „Was Monsieur Ruche uns hier mit den Worten Euklids sagen will, ist: Wenn ihr euch mit Mathematik beschäftigt, dann sind Ungeduld und Habgier unangebracht, mögt ihr auch König oder Königin sein.“
Völlig verblüfft von diesem genauso unerwarteten wie korrekten Gebrauch den Konjunktivs, nickten Monsieur Ruche und Léa im Einklang mit dem Kopf.
„Du hast mich genau richtig verstanden, Jonathan“, bestätigte Monsieur Ruche. „Der Lehrsatz, den du soeben formuliert hast, trifft zu, und das nicht nur für die Mathematik, sondern für alle Formen des Wissens. Auch für die Künste.“
„Und nicht zu vergessen, die Liebe“, fügte Léa hinzu.
„Zweifellos, zweifellos.“

Wissenschaft ist eben mehr und anderes als Ökonomie. Wissenschaft bedeutet auch Kreativität und Engagement, Offenheit und Verantwortungsbereitschaft. Und natürlich auch: Geduld.

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