Naturwissenschaft und Poesie
»Sprache und Literatur im technischen Zeitalter. Walter Höllerers Projekt einer Vermittlung zwischen den Kulturen«
Vortrag beim 6. Symposium des Promotionsstudiengangs Literaturwissenschaft in Kloster Seeon, »Naturwissenschaft und Poesie«, 18./19.6.2005
Sprache und Literatur im technischen Zeitalter sind die großen Leitthemen in Walter Höllerers in seinen Formen vielgestaltigem Lebenswerk als Literaturwissenschaftler, Literaturförderer, Lyriker und Romancier. Als Literaturwissenschaftler an die Technische Universität Berlin berufen setzte er es sich zum Ziel seiner Lehre, die Studenten der natur- und ingenieurwissenschaftlichen Fächer, deren Studienordnung humanistische Pflichtprüfungen vorsah, mit der deutschen und internationalen Literatur in Berührung und Dialog zu bringen (Höllerer: »Hier sollte sich ihnen eine Welt aus Sprache auftun, die sie anzog, aus der sie Winke bekamen: wie einmalig es ist, lebendig zu sein.«) Seine Seminare gestaltete Höllerer interdisziplinär – die angehenden Ingenieure saßen mit Germanistikstudenten in Hörsälen und Seminarräumen, eine Trennung zwischen studium generale und genuin literaturwissenschaftlicher Ausbildung gab es für Höllerer nicht. Die Naturwissenschaftler und Techniker sollten »mit neuen Bildern im Kopf an ihre technologische Erfindungsarbeit herangehen«, weshalb Höllerer den Schwerpunkt nicht auf Literaturbeispiele voll technischer Motive oder gar Technikkritik legte, sondern auf Werke »in denen die Autoren schreibend sich selbst auf der Spur waren« – also auf Poetik.
In seiner Forschung war die Semiologie Höllerers im Grundsatz immer durchgehaltenes Verfahren, Literatur zu interpretieren. Er versuchte, ausgehend von der Literatur im engeren, der Sprache im weiteren Sinne, diese Semiologie für die Erfahrung der technischen Welt wissenschaftlich zu begründen. Höllerer diskutierte kybernetische Fragen mit Hermann Wein, kommunikationswissenschaftliche Ansätze mit Hans Heinz Stuckenschmidt und Fritz Winckel, die ihn besonders faszinierenden Chancen, die Kommunikation der Tiere, besonders der Delphine, der Affen, der Elephanten, als Paradigmen von Sprache insgesamt neu zu begreifen, mit dem Biologen Helmcke. Anfang der 60er Jahre gründete Höllerer das »Institut für Sprache im technischen Zeitalter« mit den Forschungsschwerpunkten Medienwissenschaft, Sprachkritik und strukturalistische Linguistik.
Doch Höllerer war nicht nur Philologe und Methodiker, er war unmittelbar für die Literatur und Kunst seiner Zeit engagiert, Gründer und Mitherausgeber der Akzente, Publizist, Autor und Kritiker der Gruppe 47. Als Literaturförderer erkannte er, dass eine führende Technische Universität wie die Berliner mehr mit der Gegenwart und ihren Problemen zu tun hat als klassische Universitäten wie Heidelberg, Göttingen oder Frankfurt am Main, wo Höllerer mit Forschung und Lehre begann. Als Literaturförderer nutzte er Synergieeffekte: Im Wintersemester 1959/60 begann er mit der Veranstaltungsreihe »Literatur im technischen Zeitalter« an der Technischen Universität, die 1960/61 bereits in größerem Rahmen stattfand, übertragen vom Sender Freies Berlin, aufmerksam verfolgt auch im Ost-Teil der Stadt. 1961 gründete Höllerer als ergänzendes Forum zu seinen Akzenten die Zeitschrift Sprache im technischen Zeitalter. Auch in Höllerers eigenen schriftstellerischen Werk gibt es Anklänge von naturwissen-schaftlichen und technischen Motiven, 1973 erschien sein Roman Die Elefantenuhr, ein semiologischer Zeitroman, der seine Konsequenzen aus den Berliner Erfahrungen einbezieht. In Höllerers Lyrik lässt sich, weniger offensichtlich, Ähnliches beobachten.
Um der vielgestaltigen Figur Walter Höllerer gerecht zu werden, geht der Vortrag auf drei Ebenen auf Spurensuche: Auf der Ebene einer Fachgeschichte der Germanistik, auf der Ebene des Literarischen Lebens der jungen BRD und im schriftstellerischen Werk Walter Höllerers. Die anschließende Diskussion könnte u.a. auch der Frage nachgehen, was heute ist, wo Höllerer einst war: Wie ist heute das Selbstverständnis der Geisteswissenschaften an der TU Berlin? Was leistet das LCB als die wichtigste Einrichtung für Autorenförderung für eine Vermittlung zwischen den beiden Kulturen? Welche seiner Schüler aus der von ihm in den Akzenten, der Sprache im technischen Zeitalter, der Gruppe 47 und über das LCB betreuten Autorengeneration haben sich wie er in ihrem schriftstellerischen Werk der Aufgabe einer Vermittlung der beiden Kulturen gestellt?