Das schwächste Wort der Sprache: Don De Lillos Roman »Körperzeit« und der Vogel auf seiner Zunge
Wer Don DeLillos »Körperzeit« liest, stellt sich nicht nur ungewöhnlicher und ausdrucksstarker Prosa, sondern gleichzeitig dem Werk seiner Heldin, der Performance-Künstlerin Lauren Hartke, die ihr eigenes Leben und Leiden mit enormer Selbstdisziplin, die in einigen Passagen an Selbstzerstörung erinnert, inszeniert.
Nach dem Selbstmord ihres Mannes ins gemeinsame Haus zurückgekehrt, versucht sie zunächst nur, am Leben zu bleiben – klammert sich an Banalitäten, die auch schon vorher existierten und eine gewissen Kontinuität zu bieten scheinen: Die Webcam, die rund um die Uhr eine Landstraße in Kotka/Finnland zeigt, die Putzmittelflasche mit dem Pistolengriff. Dann stößt sie in ihrer eigenen Wohnung auf einen verwirrten, verwilderten Mann, dessen Geräusche sie schon früher zu hören glaubte und der offenbar schon lange versteckt dort lebt. Sie ruft weder die Polizei, noch die nächste Psychiatrische Klinik, sondern hält an ihm fest, als wäre auch er eine der kostbaren Kontinuitäten über Reys Tod hinweg. Wie um von sich abzusehen, versucht sie ihn zu observieren, um ihn zu begreifen, doch drückt sein Körper kaum etwas aus, schlafend scheint er mehr Sinn zu ergeben als ihr wach am Tisch gegenüber sitzend, und während er sich »schattengleich durch die Sätze tastet«, ist ihm niemals anzumerken, ob er spürt, wie er auf andere wirkt. Seine Wirkung auf Lauren ist enorm, kann er doch, auswendig gelernte, erlauschte Sätze Rays in dessen Stimme vortragen.
Um diese Thematik konstruiert DeLillo kein direkt erzählerisches, sondern eher beschreibendes Werk, das die Situation Laurens nach dem Selbstmord ihres Mannes in drei Perspektiven ins Visier nimmt, denen jeweils andere Erzählweisen entsprechen: In den sieben Kapiteln fokussiert er mikroskopisch genau, was in Lauren vor sich geht – das gelingt ihm in bedrückender Genauigkeit nicht in erster Linie über ihre Gedanken, sondern über die Beschreibung dessen, was sie in den »Tagen der Rückkehr«, »Tagen, die so langsam vergingen, daß es weh tat«, an banalen Handlungen, oft nur Körperbewegungen, unternimmt, um sie einfach nur vorbeigehen zu lassen. In zwei eingebauten Zeitungsartikeln – der eine bringt am Ende des ersten Kapitel in konsequenter Härte die Nachricht von Reys Tod und erstmals die Namen der Figuren ins Spiel, der zweite ist portraitiert Lauren und die Wirkung ihrer Performance – beschreibt er, was die Außenwelt von dieser Geschichte in großen Zügen mitbekommt, biographische Fakten, die für das Überleben Laurens nach dem Selbstmord ihres Mannes aber kaum eine Rolle zu spielen scheinen. Das Dazwischen, der Raum, in dem Lauren und Rey außerhalb ihrer Zweisamkeit lebten, kommt nur über Anrufe ins Spiel: Reys erste Frau, eine Freundin Laurens, der Anwalt. Lauren entzieht sich ihnen, lässt Telefone ins Leere klingeln, ruft vier mal hintereinander den Anrufbeantworter ihrer Freundin an, um ihn zu hören, wenn absehbar ist, sie wird nicht abheben. Mit dem Nebeneinanderstellen dieser Erzählweisen gelingt es DeLillo, den Eindruck separater Welten zu schaffen, die sich nicht mehr durchdringen und kaum mehr berühren, den Eindruck eines ausgehebelten Alltags, in dem auch mit höchster Anstrengung nicht mehr funktioniert, was vorher selbstverständlich auch unter fehlenden Voraussetzungen funktionierte. In dem Nebel, den die Trauer über ein Leben legt, wird deutlich, wie fragil Beziehungen konstruiert sind, wie leicht ein Leben in disparate Stücke zerfällt, wenn der Code verloren geht, über den sich die Teilbereiche verständigen.
Dabei hilft dem Autor seine stilistische Sicherheit im Nachzeichnen von Dialog und Kommunikation: In der Eingangsszene lässt er Alltagskommunikation reibungslos funktionieren, obwohl sich kaum ein Satz aus dem anderen ergibt, obwohl kaum eine Bemerkung vom Gesprächspartner richtig verstanden wird. Etwa wenn Lauren am Fenster den seltenen Häher beschreibt, und Rey an die Spatzen denkt, die immer dort sind: »›Hast du ihn gesehen?‹ Er wandte sich für eine Antwort halb um. ›Sehen wir die nicht die ganze Zeit?‹ ›Nicht die ganze Zeit. Und nie so nah.‹ ›Nie so nah. Na gut.‹ ›Er hat mich angesehen.‹ ›Er hat dich angesehen.‹« Da wird nichts mehr mitgeteilt, doch die Routine Kommunikation zerbricht auch nicht. In den folgenden Kapiteln nach Rays Tod dagegen scheint sie unwiderruflich in Scherben, obwohl durch Laurens systematische Fragen an Mr. Tuttle provoziert, lückenlos aufgezeichnet und transkribiert. Zwischen Dialogen, die meist versuchte Dialoge sind, finden sich Worte, die neugierig machen auf das englische Original, aus dem Übersetzer Frank Heibert sie verwandelt hat – in »traumzerschmolzen«, »familientraurig«, »seelenallein« und die »Schlafengehenssprache der Kindheit«. Daneben Bilder: Von einer Welt, die nicht ist, sondern geschieht, von dem Moment, in dem man spürt: man hat vergessen, das Müsli zu schmecken, hat den Geschmack irgendwo verloren. Das fremde Haar im Mundwinkel, von dem man nicht weiß, woher es kommt, solang man vom Fremden in den eigenen vier Wänden noch nichts weiß.
Mit dieser Sprache schafft DeLillo eine ganze Menge, aber er schafft eines nie: sie zu seiner zu machen. Wie einer, der immer die richtigen Worte findet, beschreibt er Laurens Zusammenbruch – »nicht der große Zusammenbruch aller wichtigen Körperfunktionen, nur ein kleines, hilfloses Zu-Boden-Sinken, als hätte sie vergessen, wie man aufrecht steht« – aber immer bleibt er Beobachter seiner Figuren, er scheint sie nicht wirklich zu verstehen, lässt sie auch nicht verstehbar werden. Er erzählt nicht, sondern führt vor, installiert, setzt Bruchstücke zusammen. Bewegt sich im Metier seiner Heldin: entwirft eine Art Performance.
Authentisch ist der Roman in den Selbstgesprächen seiner Protagonistin: »Warum sollte dich der Tod eines Menschen, den du liebst, nicht in tiefes Unglück stürzen? Du weißt nicht, wie du die Menschen, die du liebst, lieben sollst, bis sie plötzlich verschwunden sind. Dann erst begreifst du, wie spröde distanziert du ihrem Leiden oft gegenübergestanden, wie sehr du dich oft geschont, dich nur selten mit unbewehrtem Herzen gezeigt und deine Vernetzungen von Geben und Nehmen bedient hast.« Oder: »Ich bin Lauren. Aber immer weniger.« Doch davon gibt es nicht viele, agiert doch auch Lauren nicht unbedingt authentisch: Auch sie ist, wie DeLillo, keine die erzählt, sondern eine die vorführt.
Es ist schwer zu sagen, was diesem Buch fehlt, weil man ihm noch nicht anmerkt, wo es eigentlich hin will: Es scheint unfertig, irgendwie. »Irgendwie. Das schwächste Wort in der Sprache –« weiß der Erzähler den Autor zu verteidigen. An anderer Stelle liefert er ihn aus, wenn er über die fremde Stimme in Laurens Mund zu sagen weiß: »Es war seine Stimme, ein trockenes hohles Piepsen, ein Vogel auf ihrer Zunge.« Mit einem fremden Vogel auf der Zunge scheint auch DeLillos neuer Prosaband entstanden zu sein.