Wenn Literatur nicht beim Wort genommen wird: Christa Wolfs »Leibhaftig« und die Literaturkritik

Am 26. Februar feierten in Berlin-Pankow fast tausend Menschen die Premiere von Leibhaftig, der neuen Erzählung Christa Wolfs; am Vortag war das Buch erschienen. Bis zum 28. September liefen Rezensionen durch die Druckmaschinen in alle deutschen Feuilletons. Dann Stille. Alles war wie immer in der deutschen Literaturkritik, die sich entschieden hat, nur mehr den Verkauf von Büchern anzukündigen, die Verkaufszahlen in die eine oder andere Richtung zu beeinflussen, statt ihre Rezeption zu begleiten.

Und dafür reicht offenbar ein Blick auf den Klappentext, der in diesem Fall ganz offensichtlich der Kritik ihren Ton gegeben hat, und oberflächliche Lektüre. »Hier kämpft nicht nur eine Kranke gegen die Bakterien, die ihr den Garaus machen wollen. Hier kämpft zugleich eine Schriftstellerin darum, die physisch-faktische Krankheit endlich nicht mehr in der symbolischen verschwinden lassen zu müssen, sich nicht noch den Sinn der letzten Spritze vom Staat diktieren zu lassen. Dieses Buch ist ein Ereignis, weil Christa Wolf diesen literarischen Kampf über weite Strecken gewinnt.« Dieses Fazit, das Lothar Müller in der »Süddeutschen Zeitung« zieht, ist ohne Frage treffend, doch wenn die gesamte Literaturkritik zu diesem Fazit kommt und Leibhaftig auf die Metapher der Krankheit reduziert, wird das der Erzählung nicht gerecht – und genau das ist geschehen. Dabei hätte gerade dieser Text in seiner enormen Dichte der Literaturkritik die Chance gegeben, Mehrdeutigkeiten wahrzunehmen, vielstimmig zu kritisieren und wie seine Erzählerin festzustellen, »dass es so viele Innenräume gibt«, während sie von einem in den nächsten gleitet.

Bereits der Titel schließt mehrere Türen auf: Leibhaftig. Birgt das religiöse Implikationen? Deutet es auf ein Gefangensein des Körpers oder auf seine Wirklichkeit und Präsenz? Spielt Wolf mit der Rolle des Schriftstellers, der Dimension des Autors, nach der sie schon vor vielen Jahren zwei Essay-Bände betitelt hat? Vieles deutet darauf hin, etwa der Name der Anästhesistin, die für die Ich-Erzählerin eine der Schlüsselfiguren ihrer Heilung wird: »Nein, Frau Doktor solle ich sie nicht nennen, den Titel habe sie nicht. Sie heiße Bachmann, Kora Bachmann. Beziehungsreicher Name. Das versteht sie nicht.« Literatur als Heilerin? Die Kritik geht der Spur nicht nach. Auch von der Intertextuellen Dimension ist wenig die Rede, dabei bildet sie das Gewebe, aus dem die Erzählung gemacht ist. Lediglich »Die Zeit« verweist auf die zahlreichen Mythenbezüge, auf das griechische Kore, das »Mädchen« bedeutet und Rufname der Persephone war, die in der Unterwelt über die Frauen herrschte. »In den Hades, sage ich zu Kora. der Gott der Unterwelt, der die schöne Persephone auf seinem Goldenen Wagen entführte«, heißt es in der Erzählung. Und weiter: »Griechische Mythologie hat Kora in der Schule nicht gehabt.«

Das eigentlich Faszinierende aber ist, und darauf hat bislang niemand hingewiesen, wie Wolf mit dieser Erzählung ihr gesamtes Werk in einen Text verschmilzt. Wie Wolf in Leibhaftig den Palast der Republik beschreibt, so hat sie in Kassandra das Löwentor im Mykene des 20. Jahrhunderts beschrieben. Die Anfangssätze von Kassandra lauten: »Hier war es. Da stand sie. Diese steinernen Löwen, jetzt kopflos, haben sie angeblickt. Diese Festung, einst uneinnehmbar, ein Steinhaufen jetzt, war das letzte, was sie sah.« Und in Leibhaftig heißt es: »Wir sitzen auf einmal auf den Stufen zum Palast der Republik. Ein Steinhaufen auch er, denke ich, Glas und Beton, gebaut, um unterzugehn. Vielleicht deshalb ist er in dieser Nacht der redlichste Ort in dieser untergehenden Stadt. Metropole von zwei Mächten. Sie zerfällt vor unseren Augen. Und keine Umkehr aus der neuen Wildnis.« Zwei Figuren, die Wolfs Leserinnen und Lesern aus Kindheitsmuster vertraut sind, Lisbeth und der jüdische Arzt Doktor Leitner tauchen wieder auf: »Lisbeth, meine Tante Lisbeth, hat mitten in diesen Zeiten einen jüdischen Arzt geliebt und von ihm ein Kind bekommen. Unglaublich, sagt Kora.« An das Ende ihrer Erzählung setzt Christa Wolf wiederum einen einen Vers Ingeborg Bachmanns: »Du sollst ja nicht weinen, sagt du. Das, sage ich, steht auch in einem Gedicht.« In Bachmanns Gedicht »Enigma« lautet er: »Du sollst ja nicht weinen, / sagt eine Musik. / Sonst / sagt / niemand /etwas.«

Die Inhaltliche Dimension der Erzählung ist leicht und doch schwer zu beschreiben. Eine DDR-Intellektuelle aus der Generation der Autorin kämpft todkrank um ihr Überleben. In ihre bruchstückhaften Erinnerungen an ihre eigene Geschichte und die ihres Landes aber scheiden sich Episoden ein, die sich auf diesen Nenner so leicht nicht bringen lassen: »Meine Mutter auf dem Schoß ihrer Mutter in einen Eisblock eingefroren, mein Vater, über sie gebückt, vergeblich versuchend, sie loszueisen. Ich, ein Kind, auf dem Rücken meines Vaters. Als sie erwacht, ist ihr kalt.« Die Dimension der Sprache weitet Christa Wolf dabei einmal mehr: Sie schreibt Worten ihre Bedeutung zurück, dem zitierten »loseisen« etwa, sie wechselt, wie in der zitierten Passage, fließend die Pronomen. Was sie dazu motiviert, was all das bedeutet, ist nicht so schnell zu entschlüsseln, wie die Kritik heute glaubt, reagieren zu müssen. Wen wundert, dass sie Antworten schuldig bleibt, muss sie doch eine Dimension völlig ignorieren: Die der Rezeption.

Welche Wirkung ein Text hat, was er mit seinen Lesern macht spielt in der Kritik keine Rolle. Christa Wolf ist eine Autorin, die bekanntermaßen viel Post bekommt. Sie wird auf diesem Weg erfahren, dass die Berliner ihre Stadt jetzt anders lesen, seit sie das spöttische Lächeln der Erzählerin kennen, mit dem sie jedes Mal, wenn sie die Weidendammer Brücke überquert, den eisernen, preussischen Adler grüßt, bevor sie ihn möglichst auch berührt. Da wird sie auch erfahren, welche ihrer Sätze in das »innere Archiv« ihrer Leser geglitten sind – zu den »unzerstörbaren Stücken«. Wie gut täte eine tiefere und längere Auseinandersetzung darüber unserem Verständnis des Textes, aber auch unserem Verständnis derer, die ihn verstehen – und damit dem Selbstverständnis unserer Gesellschaft. Das ist es, was Literatur leisten will und sollte und wozu sich auch die Öffentlichkeit der Kritik braucht. Das ist es aber auch, was die Kritik ihr heute vorenthält.

Die Weise, auf die Bücher heute rezensiert, oder besser: nicht rezensiert werden, zeigt wie schnell Literatur in den Feuilletons verstümmelt wird, wenn die Kritik sie nicht mehr beim Wort nimmt, sondern bei der Zeitgeschichte der gesellschaftlichen Realität. Oder schlimmstenfalls beim Klappentext.

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