Willst du mit mir lesen? (23.12.2008)

Zwei Menschen, einander zufällig im Flugzeug begegnet, versuchen, nebeneinander sitzend, gemeinsam in derselben Zeitung zu lesen – und scheitern. Eine schöne Geschichte, aufgezeichnet von der Kommunikationswissenschaftlerin Miriam Meckel, Professorin in St. Gallen, die tatsächlich viel über die Integrationsfunktion von Medien verrät. Vor allem aber über die Unterschiede zwischen den Medien, insbesondere zwischen den Printmedien und den audiovisuellen Medien. »Willst du mit mir lesen?« Die Frage lässt einen perplex zurück, sie irritiert. Ganz anders als die Frage »Willst du mit mir ins Kino gehen?«, die selbstverständlicher Bestandteil unserer Alltagskultur ist. Warum ist es soviel leichter, mit Geliebten, Freunden und Fremden ein Kinoerlebnis zu teilen, als ein Buch oder eine Zeitung? Der Grund dafür liegt nicht in den Inhalten, in denen sich ein Roman und seine Verfilmung, ein Dokumentarfilm und eine Zeitungsreportage in weiten Teilen entsprechen können, er liegt tatsächlich im Medium selbst.

Die audiovisuellen Medien nämlich geben anders als die Printmedien das Tempo vor. Anders als bei der Lektüre entstehen die Bilder nicht in Eigenzeit im Kopf, sondern erscheinen in rascher Folge, 24 pro Sekunde, in unveränderlicher Geschwindigkeit vor unseren Augen. Zurückblättern, die Richtung ändern, eine Passage genau und wiederholt wahrnehmen, andere flüchtig querlesen oder überschlagen – das lässt der Film nicht zu. Die Kinosituation setzt unserem Rezeptionsverhalten, sogar unserer Körperhaltung enge Grenzen, mit ihren festen Sitzreihen, den nummerierten Plätzen, dem Wissen darum, von Fremden, einem Publikum umgeben zu sein. Im Zeitalter der DVD, die kaum zeitlich versetzt mit dem Filmstart erscheint, ist diese Öffentlichkeit längst der eigentliche Reiz des Kinos geworden: Nicht um sich einen Film anzusehen, geht man ins Kino, sondern um sich mit anderen Menschen Emotionen auszusetzen, um mit fünfzig oder dreihundert anderen zu lachen oder zu weinen.

Nebeneinander sitzend, gemeinsam dem Medium und der Öffentlichkeit seiner Darbietung ausgesetzt, verbindet die beiden Kinogänger tatsächlich zwangsläufig ein gemeinsames Erlebnis, während die beiden im Flugzeug binnen Sekundenbruchteilen feststellen, für das zweisame Lesen gänzlich ungeeignet zu sein. Ein gemeinsames Lektüreerlebnis scheint es nicht geben zu können: Zu frei lässt das Printmedium seine Rezipienten über ihr Lektüretempo und die Pfade entscheiden, die sie durch die Textpassagen wählen. Sie müssen sich zwischen Medienseite und Vermischtem arrangieren, während den beiden im Kino der Film in einer unerbittlichen Souveränität die Entscheidung abnimmt. Aus der Hoheit über das Tempo gewinnen viele Filme ihr wichtigstes ästhetisches Stilmittel, denkt man an die rasante Geschwindigkeit von »Lola rennt« oder die berührende Langsamkeit, fast Bewegungslosigkeit des Dokumentarfilms »Die große Stille«.

Während sich auf der Zeitungsseite unangenehm die Blicke kreuzen, wenn sie nicht im Gleichmaß über die Seiten gleiten, ist die Leinwand groß genug und weit genug entfernt, um sich beim zweisamen Kinoerlebnis auf Unterschiedliches zu konzentrieren. Selbst wenn die eine wie Amélie Poulain in »Die fabelhafte Welt der Amélie« das bisher unbeachtete Detail im Hintergrund fokussiert, bleibt es für die oder den anderen unbemerkt. »Wollen wir es doch nochmal mit zwei Zeitungen versuchen?« Die gleiche Zeitung, das gleiche Buch parallel lesen, nicht dasselbe, das kann funktionieren und lässt dem einzelnen Freiheit für die eigene Schwerpunktsetzung, die eigene Route durch die Ressorts, die eigenen Bilder im Kopf, wenn es um literarische Texte geht, und vor allem für das eigene Tempo.

Eines verbindet die zweisame Nutzung von audiovisuellen und von Printmedien dann doch: der Moment danach. Denn niemals verstehen zwei eine durch ein Medium vermittelte Botschaft gleich. Sobald der Abspann läuft, sind auch die beiden Kinogänger der Diskussion ausgesetzt. Denn auch wenn sie vorher wie in einer Laborsituation das gleiche Erlebnis teilten, nimmt doch jeder anders und anderes wahr. Claude Chabrol, hat bei jedem seiner Filme aufs Neue versucht, die Menschen wie mit einem Laserstrahl dazu zu bringen, alles zu erfassen, was er ausdrücken möchte, obwohl er spürte, dass das unmöglich ist. Ein wenig bleibt jedes Medium eben doch ein Spiegel, in dem der Nutzer sich selber begegnet.

Tags: , ,

2 Kommentare zu “Willst du mit mir lesen? (23.12.2008)”

  1. Geschrieben von Ida am 05. Januar 2009 um 08:32 Uhr

    Liebe Frau Krones,
    Sie zeigen diesen frappierenden Unterschied zwischen „gemeinsam dasselbe Buch lesen“ und „gemeinsam denselben Film anschauen“ wunderbar auf. Beide Tätigkeiten sind persönliche, zeitweilig sicher auch intime Vorgänge (je nachdem, wie sehr man sich auf Sujet und Plot einlässt).
    In der „Labor“-situation eines Kinos, in der man auf Gedeih und Verderben mit vielen anderen zusammengebracht ist und es so an die zwei bis drei Stunden miteinander aushalten muss, ist man automatisch versucht, ein bisschen Privatheit zu schaffen: Man tut so, als wäre man bei sich zu Hause und die anderen gäbe es nicht. Man isst – ein Pfund – Popcorn, trinkt -schlechten- Kaffee aus dem Pappbecher, bucht nach Möglichkeit einen Platz abseits der Menge.
    Erst wenn man sein winziges Labor im Labor hat, das andere nicht zu betreten wagen, ist man innerlich bereit, sich auf den Film einzulassen.
    Fazit: Schönes und Tiefes braucht Privatheit.

  2. Geschrieben von Molly am 05. Januar 2009 um 10:29 Uhr

    Es stimmt, die Geschichte von Miriam Meckel über das gemeinsame Lesen und dessen Verschiedenheit und Schwierigkeit enthält viel Wahres und der Artikel dazu kommentiert die Geschichte treffend. Deshalb wäre es vielleicht gar nicht nötig gewesen, dass die Autorin am Ende kommentiert, was da eben in ihrer Geschichte passiert ist. Es ist für den Leser ja viel spannender und aufregender, wenn er von selbst auf den Kern und die Aussage der Geschichte kommt. Meiner Meinung nach geht es bei Geschichten ja eben nicht um Kommentierung und Erklärung, sie erzählen ja. Zum kommentieren sind ja eben Texte wie der Artikeln von Frau Krones da.
    Übrigens muss ich gestehen, dass mich die Frage „Willst du mit mir lesen“ gar nicht so irritiert hat, weil dieses gemeinsame Lesen etwas ist, was ich seit Kindheit gemacht habe, nämlich mit meiner Zwillingsschwester. Vor allem Zeitschriften haben wir oft gemeinsam gelesen. Für uns war das Gewohnheit, auch wenn wir uns sicherlich aufgrund der unterschiedlichen Lebenswege inzwischen dessen wohl entwöhnt haben. Und ich gebe zu, dass man allgemein ein Buch oder sonstiges Printmedium gern für sich allein liest, um es eher danach mit jemandem zu besprechen. Und in der Geschichte der Autorin ereignet sich das Lesen auch noch auf engstem Raum. Aber gemeinsames Lesen kommt trotzdem öfter vor, als man denkt. In der Schulzeit beispielsweise, wenn der Sitznachbar seinen Text oder so vergessen hat und man ihn mit ihm teilt. Aber es stimmt, es stellt sich danach immer eine Art Erleichterung ein, wenn man sein Buch oder seinen Text wieder für sich allein hat.
    Und das jeder Leser, selbst wenn man einen Text gemeinsam liest, immer anders auffasst, kann zu Missverständnissen führen, ist zugleich aber auch ein positiver Aspekt von Individualität.

    Molly