Zehn Seiten (24.12.2008)

Literatur im Netz, das klingt nach den Listen der Online-Buchkataloge und ihren Coverabbildungen in Briefmarkengröße, das klingt nach ellenlangem Fließtext, der im Blocksatz den Bildschirm füllt, oder bestenfalls nach Autorenwebsites, auf denen man viel über Autoren, aber wenig über ihre Literatur erfährt.

Die Macher von »Zehn Seiten«, Anna Jung, Johannes Wörle, Marion Thaler, Florian Steinleitner und Per Schönacher, möchten Literatur im Internet anders präsentieren, angemessen und sinnlich. Sie lassen lesen – nicht Leserinnen und Leser, sondern Autorinnen und Autoren. Die lesen auf www.zehnseiten.de jeweils zehn selbstgewählte Seiten aus einem ihrer Bücher. Das Format ist dabei streng begrenzt, nicht nur auf die zehn Seiten Text: Die Videosequenzen sind allesamt schwarzweiß gedreht, aus einer einzigen Kameraperspektive, die frontal auf die immer gleiche Tischplatte weist. Zu sehen sind nur der jeweilige Autor, die Vorlage, von der gelesen wird, sowie ein Wasserglas.

Die Strenge des Formats eröffnet den unterschiedlichen Persönlichkeiten ungeahnten Raum: Betrachter erleben so unterschiedliche Erzähler wie Rafik Schami, der frei durch eine Passage seines Romans »Das Geheimnis des Kalligraphen« führt, die Augen immer auf die des Betrachters gerichtet, und Harriet Köhler, deren Stimme angenehm souverän aus »Ostersonntag« liest, während das verlegene Spiel ihrer Hand im Haar diese Souveränität sympathisch unterläuft. Betrachter erleben, wie unterschiedlich Autorinnen und Autoren mit der Situation umgehen, nicht live vor Publikum, sondern vor der potentiell unbegrenzten, anonymen Öffentlichkeit des Web 2.0 zu lesen: Während Ursula Krechel bei ihrer Lesung aus »Shanghai fern von wo« ihre Zuhörer anfangs kurz im Roman verortet, sie gezielt in das Buch, das sie in Händen hält, mitnimmt, beginnt Norbert Gstrein unvermittelt aus »Der Winter im Süden« zu lesen – und das nicht aus der Buchausgabe, sondern vom Papier, aus dem Manuskript. Wenn der selbe Autor einen zweiten Roman, »Die Englischen Jahre«, aus der Buchausgabe vorliest, wird augenfällig, worin der Unterschied liegt: Im diesem Fall nimmt der Betrachter vom ersten Augenblick an wahr, an welcher Stelle das Buch aufgeschlagen ist (in diesem Fall etwa in der Mitte) und fühlt sich damit im Roman verortet, während einzelne Papierseiten darüber nichts verraten. Und nur in wenigen Fällen, wenn etwa Julia Zange aus ihrem Debüt »Die Anstalt der besseren Mädchen« liest, sind Zwischentitel, Überschriften da, die wie Wegweiser im gesprochenen Wort, Orientierung versprechen.

Das gerade ist das Faszinierende an den »Zehn Seiten«: Wer auf diese Weise literarischen Texten begegnet, liefert sich der gesprochenen Sprache ihrer Autorinnen und Autoren aus. Er gibt die Souveränität ab, die er als Leserin oder Leser hätte – selbst über das Tempo der Rezeption zu bestimmen etwa, Stellen zu überspringen oder mehrfach zu lesen – und gewinnt eine Qualität, die nur das Zuhören bietet: einen zweiten Kanal, der der Geschichte Nuancen verleiht, die sie als gedrucktes Textdokument nicht hätte. Xaver Beyer liest aus »Die durchsichtigen Hunde« in zaghaft angedeuteter Zeitlupe. Er spricht von bleiernen Wellen und dem Gefühl, nicht von der Stelle zu kommen und schafft es durch seine Intonation, beim Zuhörer eine ganz ähnliche Wahrnehmung zu erzeugen. »Zurück an der Oberfläche verrät eine Blasenspur, wo man entlanggetaucht war«, heißt es in seinem Text. Diese Spur aber verliert sich beim Zuhören, hier ist Zurückschauen nicht so leicht wie auf dem Schwarz-auf-Weiß einer Buchseite.

»Zehn Seiten« eröffnet für literarische Texte im Netz eine neue Dimension. Es macht neugierig auf Autorinnen und Autoren, denen man auf herkömmlichen Pfaden im Netz vielleicht nie begegnet wäre, weil einen Themen, Titel und Paratexte nicht direkt angesprochen hätten. Es vermittelt eine Vorstellung davon, was es bedeutet haben muss, in der Gruppe 47 zuzuhören und auf bloß gehörte Texte reagieren zu müssen, ohne die Möglichkeit, zurückzublättern und nachzulesen, ohne die orientierenden Paratexte der Buchausgaben. Und es schafft all das in einer Schwarz-Weiß-Ästhetik, die in jedem Moment an die gedruckten zehn Buchseiten erinnert. Ein spannendes Literaturprojekt, das ich Ihnen gerne unter den virtuellen Christbaum lege. Wenn Sie es auspacken mögen, klicken Sie hier.

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6 Kommentare zu “Zehn Seiten (24.12.2008)”

  1. Geschrieben von Lisa am 03. Januar 2009 um 03:07 Uhr

    Was für ein schönes Literaturprojekt! Mir gefällt besonders die Mehrstimmigkeit des Intros (tolle Stimmen und gut gewählte Zitate) sowie die gelungene Symbiose von gesprochenem Text und Musik (das ist ja nochmal eine ganz eigene Dimension).

    Im Gegenzug noch eine eigene Entdeckung: Der Versuch, Literatur im Netz angemessen darzustellen, der mich zuletzt am meisten beeindruckt hat, ist der „Literaturdöner“ des Reclam Verlags. Der heißt tatsächlich so und ist auf der gleichnamigen Website http://www.literaturdoener.de zu sehen und zu lesen.

    Was mir daran gefällt, ist der unmittelbare Zugang zu den Texten. Die drehen sich „wie am Spieß“, man berührt sie mit der Maus, beobachtet sie, liest die ganz kurzen Zitate, und erst, wenn einen eines tatsächlich anspricht, klickt man es und erfährt dann mehr zum Kontext. Klar, manches kennt man, aber einiges hätte ich ganz anderen Verfassern, auch Epochen zugeordnet. Diese Unmittelbarkeit, dass einen zuerst der Inhalt erreicht, und er erst in einem zweiten Schritt an Zeit und Person gebunden wird, gefällt mir. Dazu ist der „Literaturdöner“ auch noch interaktiv: Man kann zugreifen und sich aus den Sätzen, die man behalten will, seinen eigenen „Literaturdöner“ basteln. So doof das Bild des „Literaturdöners“ auch ist, die Art des Umgangs mit Text und Typographie gefällt mir. Sicher hätte man Schrift in Bewegung auch anders realisieren können, etwa als einen Fluss, ein Laufband mit Schrift, wie im Fernsehen üblich, oder Ähnliches. Wäre dann aber auch nicht mehr so originell, wie es der „Literaturdöner“ eben ist.

    Ich freu mich drauf, weitere Literaturprojekte im Netz zu entdecken, und hoffe, hier kommen noch ein paar Hinweise.

    LG, Lisa

  2. Geschrieben von Frederike am 03. Januar 2009 um 13:31 Uhr

    Kurzfilme über Bücher oder Bücher als Kurzfilme?

    Das Intro mutet mit seinen sich verändernden und bewegenden Strichen dem Intro der Constantin Filmgruppe an. Und wie in einem Trailer versteckt sich hinter diesem Intro ein guter Film- ein Film über Bücher. Oder sind es die Bücher, die den Film machen? Denn schließlich sind sie der Anlass und das Hauptthema der kurzen Filmsequenzen.
    Wie man es sonst nur bei Büchern findet und es bei den Filmen meistens vermisst, so schaffen die Autoren durch ihre Präsenz, durch ihre Stimme, durch ihre ganz persönliche Auseinandersetzung mit dem Stoff ihrer Bücher den Zuschauer- oder sind wir fast schon die Leser?- in den Bann zu ziehen.
    Haben Sie noch vor ein paar Wochen in ihrem Blog einen Artikel über die „Verramschung“ der Bücher geboten, so scheint sich hier ein wirklicher Ausweg aus dem Problem aufzutun. Denn dieses Projekt macht auch den Lesern, die allzu selten den Weg in die Buchhandlung finden, deutlich, dass nicht nur Filme, sondern auch Bücher Gesamtkunstwerke sind, die man genießen sollte und die ihren Preis haben.
    Schön, dass die Website kostenlos ist, denn sie lässt so den Preis für die dort vorgestellten Bücher mehr als gerechtfertigt erscheinen.
    Ein wirklich schönes Geschenk, dass Sie uns unter den Christbaum gelegt haben.
    LG Frederike

  3. Geschrieben von Eva am 04. Januar 2009 um 12:17 Uhr

    Döner – leicht verdaulich?

    Zunächst einmal vielen Dank an Frau Krones, dass Sie dieses Portal für Meinungen und Entdeckungen im Bereich Literatur geschaffen haben.
    Wie man ja an „Zehn Seiten“ und „literaturdoener“ sehen kann, bietet das Netz unendlich viele und neue Möglichkeiten Literatur (im weitesten Sinne) aufzubereiten und zu rezipieren. Schön, dass wir jetzt in diesem Rahmen (unter anderem) darüber diskutieren können.

    Zu „Zehn Seiten“:
    Danke für diese Info! Ich gehe sehr gern auf Autorenlesungen und diese Seite bietet ja sozusagen ein virtuelles Pendant. Das Intro und die puristische Gestaltung der Seite sind sehr ansprechend gestaltet und durch die „Strenge des Formats“ wird die Unterschiedlichkeit der Autoren überaus deutlich. Das ist auch der Vorteil gegenüber Youtube.de und Homepages der Autoren, wo man ja, wenngleich mühsamer, auch Autorenlesungen finden kann.

    Zu „Literaturdoener“:
    Vielen Dank auch für diese Info! Es ist zugegebenermaßen amüsant und „leicht“, sich durch den Döner zu klicken. Die Zitate sind wirklich ansprechend und machen Appetit auf „schwere Kost“. Aber muss das in Form eines Döners sein? Wie Frederike bin ich der Meinung, dass man das auch anders hätte umsetzen können. Gerade von einem seriösen und renommierten Verlag wie „Reclam“, der vor allem aufgrund des einzigartigen und genialen Konzepts der Universal-Bibliothek erfolgreich ist, hätte man da Anderes erwartet. Es muss ja (hoffentlich) eine Menge Überwindung gekostet haben, Kant auf einen Dönerspieß zu stecken. Und es macht auch nachdenklich, dass Reclam glaubt, solche Mittel ergreifen zu müssen, um die die „Generation youTube“, wie sie uns liebevoll nennt, ansprechen zu können…

    Ich freue mich auf eure Meinung.
    Lg, Eva

  4. Geschrieben von effi briest am 04. Januar 2009 um 21:27 Uhr

    eher mit dem „literaturdoener“ als mit den „zehn seiten“ zu vergleichen ist nikolai vogels website „die lesbarkeit der weltliteratur“:

    http://www.literatursuche.de/lwl/

    beschreiben kann man sie gar nicht, finde ich, man muss sie ausprobieren. also nicht gleich aufgeben, wenn man am anfang keinen zugang findet, sondern die funktionen durchprobieren, die sich über das eine kleine menü hinter dem pfeilchen bieten.

    fasziniert hat mich, dass es für mich schon einen großen unterschied macht, ob ich die website mit oder ohne einblendung der autoren und titel auf mich wirken lasse (und wie wenige der zitate ich ohne einblendung der quelle überhaupt erkannt hätte). am stärksten beeindruckt mich, dass diese website, die eigentlich nur aus kurzzitaten besteht und überhaupt keinen „erklärenden text“ hat, am ende doch so etwas wie eine „these“ hat: je mehr weltliteratur an einem vorbeizieht, desto weniger kann man den einzelnen text entziffern. heißt das auch: je mehr man liest, desto weniger versteht man? puh, kein schöner gedanke für junge literaturwissenschaftler – aber eine spannende website. viel spaß!

    (kleiner technischer hinweis: wichtig für „die lesbarkeit der welt“ ist, dass euer browser pop-ups zulässt, zumindest für diese eine website, denn sonst werdet ihr bei einigen der möglichen funktionen gar nicht merken, dass sich etwas tut.)

  5. Geschrieben von Sophia am 05. Januar 2009 um 16:58 Uhr

    Zwar bin ich (leider!) keine von Frau Krones‘ Studentinnen, doch genieße ich mit sehr großem Gewinn dieses Blog. Und dafür ist es doch sicher auch gedacht. Herzlichen Dank, Frau Krones, für diese wunderbare Chance, durch Ihr Portal ganz leicht in die Welt der Bücher zu spazieren und mit alter und neuester Literatur auf geistreiche Weise ins Gespräch zu kommen!
    Sophia

  6. Geschrieben von Berenice am 05. Februar 2009 um 21:37 Uhr

    Um unbekannte(re) Autoren und/oder potentielle zukünftige Lektüren kennenzulernen, stellt das Projekt „Zehn Seiten“ einen wirklich sehr gelungenen und kreativen ersten Ansatzpunkt dar.
    Wie beispielsweise Paul Celan seinem „Gespräch im Gebirg“ durch einen ungewöhnlichen Leserhythmus und eine ganz spezielle Intonation eine zusätzliche, faszinierende Tiefe zu verleihen vermochte, eröffnen die Lesungen der Autoren dem Leser bzw. Zuhörer in so manchem Fall einen neuen und sehr individuellen Zugang zu den jeweils vorgestellten Texten. Dies gilt besonders für Rafik Schami, dessen freier Vortrag es schaffte, mich richtig zu „fesseln“. Einige Texte verlieren jedoch durch den schlechten Vortragsstil ihrer Autoren leider so manches an Substanz.

    Den „Literaturdöner“ von Reclam würde ich im Gegensatz zu diesem Projekt als eher an der Oberfläche verbleibende, jedoch unbestritten gut in Szene gesetzte „Spielerei“ einstufen, der ein gewisser Unterhaltungs- und Überraschungswert allerdings nicht abgesprochen werden kann. Ein gutes Beispiel hierfür liefert u.a. der „Todesdöner“, in welchem sich an Sprüche wie „Ich fühle eine Armee in meiner Faust – Tod oder Freiheit“ Aussagen wie „Ich habe meine Tante geschlachtet“ oder „Ihr Mann ist tot und lässt Sie grüßen“ anschließen.