Herzzeit. Der Briefwechsel zwischen Ingeborg Bachmann und Paul Celan (27.12.2008)

In der Tat ginge in Zukunft eine wichtige Form der historischen Interpretation verloren, wenn digitale Korrespondenzen, die heute im Entstehen sind, nicht mehr archiviert würden. Das gilt für die Politik- und Geschichtswissenschaften ebenso wie für die Kunstwissenschaften, insbesondere die Literaturwissenschaft, für die es dieser Briefwechsel so eindrücklich zeigt, indem er die Lyrik Celans und die Lyrik und Prosa Bachmanns tiefenschärfer verstehen hilft. Und doch fühlt man sich gleichzeitig wie eine Voyeurin, erfährt zu dem was einen aus fachlichem Interesse berechtigt interessiert und den Gegenstand der eigenen Disziplin verstehen hilft, auch Privates, Intimes, das man bei der Lektüre weder umschiffen noch vergessen kann, sondern das sich einbrennt und berührt.

Bachmann selbst hat das Dilemma formuliert: »Ich möchte das Briefgeheimnis wahren. Aber ich möchte auch etwas hinterlassen.« Vor diesem Dilemma stehen heute auch wir, die wir uns an dem Punkt befinden, an dem uns bewusst wird, dass unsere digitale und vernetzte Gesellschaft inzwischen eine Vergangenheit hat. Wir müssen einen Weg finden, digitale Dokumente zu bewahren, und zugleich bedachter als je zuvor auf ›das Briefgeheimnis‹ sein, auf den Schutz der Privatsphäre auch über den Tod der Korrespondenten hinaus, da sich digitale Archive verletzlicher zeigen werden als papierne, denen nur ein Brand, ein Wasserschaden oder Diebstahl etwas anhaben können. Digitale Archive werden durch Volltextsuche und andere Mechanismen leichter recherchierbar und zugänglich sein als jeder papiererne Archivbestand. Das ist ihr großes Plus und zugleich ihre Achillesferse. Digitale Dokumente werden leichter zu fälschen sein als jedes papierne Original, sie werden leichter zu missbrauchen durch ihre weltweite Abrufbarkeit, die Möglichkeit, sie unbegrenzt zu vervielfältigen, zu verlinken und in fremden Kontexten zu präsentieren.

Gerade diese Möglichkeiten machen den Schritt vom hand- oder maschinenschriftlichen Original zum digitalen Dokument so gewaltig. Der Schritt vom Typoskript zum digitalen Dokument wird noch größer sein als der vom Manuskript zum Typoskript, den Ingeborg Bachmann in einem der Briefe an Celan bedauert – ein Medienwandel, der unter dem Titel »Ich bin mein Medienwandel« auch in diesem Blog im Februar 2008 schon Thema gewesen ist: »Nimm mir vor allem nicht übel, daß ich die wichtigsten Briefe immer mit der Maschine geschrieben habe«, schreibt Bachmann am 4.7.1951 an Celan: »Das Tippen ist mir so zur Gewohnheit – oder viel mehr als das – geworden, daß ich kaum mehr fähig bin, Worte, die mir am Herzen liegen, mit Tinte aufs Papier zu malen.« Das gewählte Medium prägt im Prozess des Notierens unsere Gedanken und den Ausdruck, den wir für sie finden. Genauso lenkt das Trägermedium der Botschaft, sei es nun Papier oder ein digitales Dokument, unser Rezeptionsverhalten – wir lesen nicht nur die übermittelten Gedanken, sondern lesen auch Informationen aus dem Trägermedium, das sie uns übermittelt.

Wenn die Korrespondenzen unserer Zeit nur mehr digital archiviert werden, wenn E-Mail-Korrespondenzen verstorbener Persönlichkeiten der Zeitgeschichte in digitalen Archiven und per Volltextsuche zugänglich gemacht werden, wird das ein ganz anderer Zugang sein, als ihn die Archivarbeit am Beständen des 20. und vorangegangener Jahrhunderte erlaubt, die sich als eine Arbeit am Originaldokument versteht. In der Regel beginnt eine solche Recherche in einer Autographendatenbank wie Kalliope, die derzeit 1.310.000 Autographen von 442.700 Personen verzeichnet (Stand: April 2008). Derartige Datenbanken liefern keine Digitalisate, sondern ein Verzeichnis der Standorte der Originaldokumente. Bei den dort katalogisierten Autographen Ingeborg Bachmanns verweisen sie etwa auf das Deutsche Literaturarchiv in Marbach, die Monacensia in München, auf das Archiv der Akademie der Künste in Berlin, das Literaturarchiv in Sulzbach-Rosenberg sowie auf zahlreiche Nachlässe von Bachmanns Korrespondenzpartnern.

Die Spurensuche, die dann beginnt, führt quer durch die Republik und ist (noch) nicht online von jedem beliebigen PC aus zu leisten. Sollte sie es jemals sein, weil alle Bestände gescannt, digitalisiert und online publiziert wären, sie würde eine andere sein, denn gerade die Arbeit am jeweils nur einmal an genau diesem Ort vorhandenen Original zeichnet Archivarbeit heute noch aus. In meinen editionswissenschaftlichen Proseminaren kann ich immer wieder beobachten, wie es Studentinnen und Studenten berührt, wenn sie zum ersten Mal mit Originalen arbeiten und Briefe von Bachmann, Grass oder Enzensberger, Goethe, Kleist oder Kaléko in Händen halten. Weil Originale von Briefen eben mehr erzählen als ihre digitale Form oder ein edierter Briefwechsel wiedergeben: Knicke im Papier, die Eile oder Unachtsamkeit verraten, Kaffeeflecke, die auf eine gemütliche Schreibsituation verweisen, verwischte Tinte, die nicht recht zu deuten ist, der Charakter der Handschrift an sich. Überhaupt, der Träger, das Papier: Briefe entstehen auf edlen Briefbogen, aber auch auf Rückseiten von Zugfahrkarten oder Konzeptpapieren und jede Archivalie erzählt über die auf ihr aufgezeichnete Geschichte hinaus auch ihre eigene.

Bei meinen Studentinnen und Studenten kann ich beobachten, wie sich ihnen der Person über die Originale als eine lebendige aufschließt. Eine Autorin wie Bachmann ist plötzlich nicht mehr nur die kanonisierte Autorin der Nachkriegszeit, sondern wird zu einem Wesen aus Fleisch und Blut. Umso bewegender werden für sie Briefe wie die vom Anfang des »Herzzeit«-Bandes, wenn die Mitte zwanzigjährige Bachmann langsam den Übergang in den Beruf plant: »Ich habe sehr viel Arbeit, das Studium geht dem Ende zu, daneben schreibe ich für Zeitungen, für den Sender etc., mehr als früher. Ich versuche, nicht an mich zu denken und mit geschlossenen Augen hinüberzukommen zu dem, was eigentlich gemeint ist.« (Bachmann an Celan, 12.4.1949). Briefe, in denen Celan Bachmann, die auf ein Stipendium für Paris wartet und die Zeit bis dorthin mit einer Reise nach Amerika überbrücken will, zurechtweist und ihren tatendurstigen Perfektionismus kritisiert, ihre Ungeduld, alles so schnell wie möglich erreichen zu wollen: »Warum auch Amerika? Kommt es denn wirklich darauf an, gerade da Erfahrungen zu sammeln, wo man sie so gern an Erfolg misst? Du hast bisher mehr vom Leben gehabt, Inge, als die meisten Deiner Altersgenossen. Keine der Türen ist Dir verschlossen geblieben, und immer wieder tut sich Dir eine neue Tür auf. Du hast keinen Grund, ungeduldig zu sein, Ingeborg, und wenn ich eine Bitte äußern darf, so ist es gerade diese: denk, wie rasch alles Dir zu Gebote steht. Und sei nun ein wenig sparsamer mit seinen Ansprüchen.« (Celan an Bachmann, 7.7.1951) Worauf Bachmann sich verteidigt: »Dass ich Ansprüche stelle, vielleicht zu hohe, mag ich mir nicht übel nehmen, das stimmt von all dem, was Du mir vorwirfst, auch dass ich ungeduldig und unzufrieden bin, aber meine Unruhe treibt mich, dessen bin ich gewiss, nicht Wegen zu, auf denen man sich verliert.« (Bachmann an Celan, 17.7.1951) Briefe zu lesen, die jemand in dem Alter und der Situation verfasst hat, in der man selbst sich befindet, in dem Wissen, wie sich dessen Wege in der Folge entwickelt und verzweigt haben, dazu dessen Briefe im Original zu lesen, aus dem die jeweilige Lebenssituation, der Entstehungskontext deutlicher spürbar wird als in jeder Edition – das ist eine Erfahrung, die gerade junge Literaturwissenschaftler unbedingt machen sollten, um ein Gespür für die Entstehungsbedingungen literarischer Werke zu bekommen.

»Es ist eine schöne Liebe, die ich mit Dir lebe, und nur weil ich Angst habe, zu viel zu sagen, sage ich nicht, dass sie die schönste ist.« (Bachmann an Celan, 25.8.1949). Es tatsächlich keine Übertreibung, dass es ein wunderschöner Briefwechsel ist, sicher der schönste, der im Sommer 2008 erschienen ist. Und nur, weil es noch eine Hand voll weiterer gibt, die ähnlich bewegend und lesenswert ein ähnliches Dilemma vor Augen führen, scheut man sich zu sagen, es wäre der schönte überhaupt. Und empfiehlt zur Lektüre: Ingeborg Bachmann mit Hans-Werner Henze, Franz Kafka an Milena Jesenská, Franz Kafka an Felice Bauer, Annemarie Schwarzenbach mit Klaus und Erika Mann, Simone de Beauvoir an Nelson Algren, Sylvia Plaths Briefe an ihre Eltern sowie die Briefwechsel von Brigitte Reimann und Christa Wolf.

 

Herzzeit. Ingeborg Bachmann – Paul Celan. der Briefwechsel, hrsg. und kommentiert von Bertrand Badiou, Hans Höller, Andrea Stoll und Barbara Wiedemann ist 2008 im Suhrkamp Verlag erschienen und liegt außerdem in einer Lizenzausgabe der Büchergilde Gutenberg vor.

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3 Kommentare zu “Herzzeit. Der Briefwechsel zwischen Ingeborg Bachmann und Paul Celan (27.12.2008)”

  1. Geschrieben von Steffi am 01. Februar 2009 um 00:21 Uhr

    In der Tat war es ein bewegendes Erlebnis, im Zuge des Editionsseminars von Frau Krones (Sommersemester 2008) Briefe von Ingeborg Bachmann im Literaturarchiv Sulzbach-Rosenberg einsehen zu dürfen – und das noch dazu am Tisch der Gruppe 47, gleich neben Ingeborg Bachmanns Sofa.
    Die Dichterin wurde durch die Arbeit mit den Originalbriefen, aus ihrer Korrespondenz mit Walter Höllerer, als Mensch ein Stück weit „fühlbarer“. Dazu trug u. a. ein maschinengeschriebener Brief bei, der am Rand einen Fleck hatte. Bachmann hat diesen Fleck handschriftlich erläutert: „= Rotwein“.

    Übrigens ist der Briefwechsel „Herzzeit. Ingeborg Bachmann – Paul Celan“ am 15. Januar 2009 bei speak low als Hörbuch erschienen, gelesen von Johanna Wokalek und Jens Harzer.

  2. Geschrieben von Greta Lax am 04. März 2009 um 13:11 Uhr

    Mich haben leider beim Lesen die ständig wechselnde Rechtschreibung der Konjunktion daß/dass wie auch – aus meiner Sicht falsch geschriebene Wörter – wie Gruesse, du weisst-und viele andere sehr gestört, zumal ich mir schwer vorstellen kann, dass beide – P. Celan und I. Bachmann – nur bei der Verschriftung des ss/ß so häufige ‚Felhler‘ machen.
    Ich würde mich freuen, wenn mir jemand dazu eine Erklärung geben könnte, vielleicht stellt sich dann ein Lesevergnügen wieder ein.

  3. Geschrieben von Lisa am 09. März 2009 um 08:35 Uhr

    @ Greta Lax: Ich habe die Briefausgabe zu Hause und habe hineingeblättert; die Stellen lauten tatsächlich wörtlich so, wie in Frau Krones‘ Rezension zitiert. Es gibt den Wechsel von ss und ß. In der editorischen Notiz im Anhang wird darauf hingewiesen, dass die Schreibgewohnheiten der Briefpartner in Orthographie und Interpunktion beibehalten wurden, auch dann „wenn sie durch das Schreibinstrument – etwa eine französische Schreibmaschine – bedingt sind.“ (S. 245).
    Der Wechsel zwischen ß und ss kommt also daher, dass französische Schreibmaschinen kein ß hatten. Ich finde es richtig, dass dieses – bei Briefausgaben in der Regel angewandte – Editionsprinzip auch hier verfolgt wird, denn wo hören die Eingriffe sonst auf? Wenn ich mir vorstelle, ich würde in einigen Jahrzehnten in einer Sammlung von Korrespondenzen auch SMS, E-Mails oder Blogeinträge zitieren, würde ich die für das Medium typischen Rechtschreib-Besonderheiten auch stehenlassen (Kleinschreibung, Abkürzungen, die häufig aus der englischen Sprache kommen, Besonderheiten oder eben Fehlen der Anrede u.a.), auch wenn sie nach Rechtschreibkonvention fehlerhaft sind.