»Entschlüsseln Sie das Geheimnis Ihrer eigenen DNA. Noch heute.«

Von Susanne Krones (2008) – »Entschlüsseln Sie das Geheimnis Ihrer eigenen DNA. Noch heute.« Mit diesem Slogan wirbt die Firma »23 and Me« für ihren »First Personal Genome Service«. Das klingt einfach, spannend und vor allem nach einer sehr »persönlichen« Angelegenheit. Es klingt so gar nicht nach den großen und noch immer in keiner Weise bewältigten Herausforderungen, vor die die Möglichkeiten der Gendiagnostik unsere Gesellschaft am Beginn des 21. Jahrhunderts stellen.

Alle Möglichkeiten zur Gendiagnostik und, im zweiten Schritt, zur gentechnischen Optimierung von Menschen werden ethische Probleme mit sich bringen. Was bedeutet etwa Chancengleicheit im Genzeitalter? Die traditionellen Theorien zur Chancengleichheit unterscheiden zwischen Natur und Zufall auf der einen, Gerechtigkeit auf der anderen Seite, also zwischen dem, was als ›Schicksal‹ zu akzeptieren ist, und dem, was durch soziale Regelungen und Verteilungsgerechtigkeit verhindert werden kann. Die Möglichkeiten, die das Human-Genom-Projekt eröffnet, führen dazu, dass beide Bereiche nicht mehr so leicht trennbar sind. Die amerikanische Philosophin Martha Nussbaum (sie lehrt in Chicago) ist sich bewusst, dass diese Paradigmen neu gedacht werden müssen: »Wir sind es gewohnt, unter dem Verteilungsaspekt über Gerechtigkeit nachzudenken, Dinge werden an Menschen umverteilt, die Menschen bleiben dabei, wie sie sind. Das wandelt sich, wenn wir in der Lage sind, Menschen grundlegend zu verändern. Dann muss der Begriff der Gerechtigkeit neu gedacht werden. Und schon beginnt uns die Idee einer konstanten menschlichen Natur zu entgleiten.«

Gerechtigkeit neu zu denken lautet also die Herausforderung. Doch klarem Denken stehen in dieser Frage drei Hindernisse entgegen, die Nussbaum in den USA beobachtet, und die meines Erachtens auch in der deutschen Debatte unübersehbar sind: Das erste ist die menschliche Angst vor Veränderung, die uns davor warnt, unsere Grenzen zu sprengen und Gott zu spielen. Diese Intuitionen können ernsthaftes Nachdenken nicht ersetzen, denn, so Nussbaum: »In zahllosen Hinsichten spielen wir bereits Gott, wenn wir impfen und Krankheiten behandeln. Und ›Natur‹ ist für den gesunden Menschenverstand schwerlich eine moralische Norm.«  Das zweite Hemmnis bezeichnet Nussbaum als ›neuen Genfetischismus‹ oder ›genetischen Determinismus‹: Diese Vorstellung, alles läge in den Genen und entzöge sich anderer Beeinflussung, ist spätestens dann obsolet, wenn auch die Gene in unserer sozialen Verantwortung liegen – wir sind gerade dabei, dieses Stadium zu erreichen. Drittens erschwert ein Mangel an systematischer Anstrengung klares Denken. Hier sieht Nussbaum die Verantwortung der Gegenwartsphilosophie, die die Diskussion um genetische Optimierung mit der Frage der Chancengleichheit verknüpfen muss: »Die Chancengleichheit ist schon jetzt ein verwirrender Begriff, aber sie wird es umso mehr, sobald es in unserer Macht steht, die Person zu verändern.«

Die heikelsten Fragen werden für Nussbaum an dem Punkt berührt, an dem sich Menschen mit Behinderungen mit einer ›Tyrannei der Konformität‹ konfrontiert sehen. »Menschliches Leben ist immer ein Kampf gegen die Grenzen der Natur gewesen. Außerdem wissen wir, dass viele der kreativsten und wertvollsten Lebensläufe das Ergebnis besonders schwieriger Kämpfe waren.« Bei einer Wahlfreiheit um genetische Optimierung aber zählt das wenig: Besorgnis (und vielleicht auch Ehrgeiz?) der Eltern, würden in nahezu allen Fällen genetische Eingriffe verlangen, die auf eine Optimierung kommender Generationen angelegt sind, so Nussbaum in einem sehr persönlichen Plädoyer: »Meine Tochter wurde mit einer Beeinträchtigung der Wahrnehmungsfähigkeiten und der Motorik geboren, mit der sie fraglos unterhalb des Basiswerts der Autoren für ›normales artgemäßes Funktionieren‹ liegt. Die Beeinträchtigung ist so schwer, dass sich jede Mutter für eine genetische ›Korrektur‹ entschieden hätte. Meine Tochter lernte lesen, als sie zwei war, und ihre Schuhe zu binden, als sie acht war. Obwohl sie begabt und hübsch ist, muss sie ihr ganzes Leben mit Spott fertig werden. Ihre eigenwillige, lebendige, humorvolle und sehr unabhängige Persönlichkeit ist ohne diese Kämpfe nicht denkbar. Ich wünsche nicht nur nicht, ich hätte ein anderes Kind gehabt, sondern ich wünsche nicht einmal, sie wäre ›genetisch korrigiert‹ worden.«

Nussbaums Plädoyer geht dahin, dass statt natürlichen Anlagen immer erst kulturelle Bedingungen verändert werden müssen: »Es ist gut so, dass unsere Gesellschaft entschieden hat, dass Homosexualität keine Krankheit ist und beschlossen hat, gegen das Vorurteil zu kämpfen, statt die Homosexualität auszumerzen.« Ob unserer Gesellschaft dies auch bei all den Benachteiligungen gelingen wird, die man aus einem Genom herauslesen kann? Nussbaum ist skeptisch: »Gute Eltern werden sich sehr wahrscheinlich nicht dazu verpflichtet fühlen, soziale Vorurteile zu bekämpfen, sondern vielmehr dazu, entsprechende Veranlagungen vorgeburtlich zu ›korrigieren‹.« Allein die Tatsache, überhaupt eine solche Wahl zu haben, sei bedrohlich und in mancher Hinsicht tragisch. Eltern sind schlechte Richter sind, wenn sie beurteilen sollen, was im Kernbereich des Normalen liegt.

Letztendlich appelliert sie an die, »die ihr eigner Unterschied stark gemacht und zu großen Leistungen herausgefordert hat«, ihr »kompliziertes und vielleicht glückliches Schicksal« zu bedenken und zu versuchen, »eine Welt zu bewahren, in der dies auch noch anderen widerfahren kann«.

Erstmals erschienen im Mai 2008.

»Unlock the secrets of your own DNA. Today.« With this slogan the company »23 and Me« advertises its »First Personal Genome Service«. That sounds simple, even exciting and, above all, it sounds very »personal«. It diverts from these two big and still totally unmet challenges of genetic diagnosis society is confronted with at the beginning of the 21st century. The one: We need to rethink our notion of equal opportunities, which Miriam Meckel’s example of a hypothetical application shows; for, what does »equal opportunities« mean in the age of genetics? The other: The growing medical opportunities – after prenatal diagnosis – will force people to try genetic optimizing.

Traditional theories of equal opportunities differentiate between nature and chance on the one hand and justice on the other hand, in other words, between what has to be accepted as fate and what can be averted through social norms and fair distribution. The opportunities provided by the Human-Genome-Project make it more difficult to separate both fields. US philosopher Martha Nussbaum is aware of the necessity to rethink these paradigms: »We are accustomed to thinking about justice in terms of distributing things to people, where the people remain who they are and are imagined as sharing a common set of human needs and abilities. When we are able to alter people in fundamental ways, however, we shall have to consider that justice may require some remaking of people. And once we begin to travel this road, we will surely notice that it is quite unclear what we are promoting, because the idea of a constant human nature begins to slip through our fingers.«

So, our challenge is to rethink justice. However, thinking rationally is difficult when the issue is so disputed. Three reasons make this debate eve more difficult in Germany and the United States: The first is people’s fear of change, which warns us not to cross our limits and »to play God«. Though one may easily understand these scruples, serious reflection is inevitable, because, as Nussbaum puts it: »We already ›play God‹ in countless ways: we give inoculations, we treat diseases. In so many areas of our lives, we are not passive before nature. And ›nature‹ is hardly a moral norm for any sane person.« The second is termed »new genefetishism« or »genetic determinism«. The idea that everything »genetic« could not be influenced in any way is obsolete – at latest – when even the genes are in society’s responsibility; we are just about to reach this stage. Thirdly, there is almost no systematic intellectual discussion of the theoretical concept of equal opportunities. This is the point where Nussbaum sees the responsibility of today’s philosophy: »Equality of opportunity is a puzzling concept at the best of times, but it becomes more puzzling when we have the power to alter the person.«

She clearly denotes the problems involved, problems that have to do with people who are different, e.g. because they are handicapped, and who see themselves confronted with a tyranny of conformity: »For human life always has been a struggle against the limits of nature, and any real human being is the result of such a struggle. Moreover, we know that many of the most creative and valuable human lives are the result of particularly difficult struggles that forced people out of the mainstream and made them the targets of contempt and abuse.«

As soon as people are free to choose genetic optimizing, however, that does not count much: In almost all cases worries and perhaps ambition of parents would demand genetic engineering in order to optimize future generations, Nussbaum states in a very personal plea: »My daughter was born with a perceptual and motor impairment that clearly puts her below the base line for ›normal species functioning‹. It is an impairment severe enough that any decent mother would have opted, ex ante, for a genetic ›fix‹. Although she is both gifted and beautiful, she has had to contend with abuse and teasing all her life. Her idiosyncratic, lively, humorous, and utterly independent personality is inseparable from those struggles. Not only do I not wish that I had some other different child, I do not even wish that she herself had been ›fixed‹.«

Nussbaum argues that cultural conditions have always to be changed before natural qualities. »It is a very good thing that our society decided (if it has so decided) that homosexuality is not a disease to be treated, but a condition against which irrational prejudice has been directed, that it has decided to fight prejudice rather than to eradicate homosexuality.« Will society be able to act this way with regard to all disadvantages that can be read in a genome? Nussbaum is sceptical: »It is likely that good parents will feel obliged not to work against social prejudices that make the lives of such children difficult, but instead to ›fix‹ those conditions before birth if they can.« The fact alone that we can make this choice is threatening, and in some way, tragic. Parents are bad judges when it comes to determine what is basically normal.

Finally, Nussbaum appeals to those who have been made strong and successful simply by being different to preserve a world where others will still have this opportunity in future: »But those people who were formed, and strengthened, and provoked to achievement, by their own difference – who became thinkers, say, because they could not be cheerleaders – should ponder their complicated but happy fate, and try to preserve a world where it may still befall others.«

A difference can make a difference, indeed.

First published in Mai 2008.

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