Wir sind Helden. Kulturelle Leitfiguren junger Erwachsener

Von Susanne Krones (Neue Gesellschaft Frankfurter Hefte 9/2011, S. 74ff.) – »Hat irgendwer gesagt es wäre Zeit für Helden? / Wir kommen um die anderen Helden abzumelden« (aus: Heldenzeit) Wer sind die Leitfiguren der jungen Erwachsenen, die sich im Song Heldenzeit der Pop-Rock-Band Wir sind Helden lautstark als kollektives Wir zu Wort melden? Welche Leitfiguren hat eine Generation, die oft als orientierungslos bezeichnet wird, die als erste vor der Herausforderung steht, Richtung in einem politischen Spektrum einzuschlagen, in dem jeder »in der Mitte« steht?

Fragt man Menschen zwischen 15 und 30 nach ihren Leitfiguren, scheitert der Versuch häufig schon an der Frage: »Was meinst du mit Leitfigur? Also, Vorbilder habe ich keine.« Zur Leitfigur wird, wer als Leitbild angesehen wird: Persönlichkeiten, die innovative Ideen haben und als Projektionsflächen dienen. Leitfiguren macht man sich, darum verraten sie etwas über die, die sie zu Leitfiguren erheben und in ihnen eigene angestrebte Ideale personifizieren. Was sagt das aus über eine Generation, die kaum eigene Leitfiguren nennen kann, schon gar keine aus der eigenen Generation?

Die Vorgängergenerationen haben ihre Leitfiguren längst kanonisiert; ihre Leitmedien bilden sie wieder und wieder ab. 2006 etwa ließ das ZDF von einem breiten Publikum die »zehn besten Deutschen« aller Zeiten wählen: Konrad Adenauer, Martin Luther, Karl Marx, die Geschwister Scholl, Willy Brandt, Johann Sebastian Bach, Johann Wolfgang von Goethe, Johannes Gutenberg, Otto von Bismarck und Albert Einstein besetzten die ersten zehn Plätze. Eine jüngere Liste der ZEIT ergänzt aus dem internationalen Umfeld so heterogene Leitfiguren wie Kate Moss, Ernesto »Che« Guevara, Jim Morrison, Nelson Mandela, Marilyn Monroe, Muhammad Ali, Simone Young, Martin Luther King, Madonna, Mutter Theresa und die Beatles.

Nur ganz wenige der in beiden Auswahllisten genannten Persönlichkeiten sind in den 1960er- oder 1970er-Jahren geboren. Die, die es in die insgesamt 200 Deutsche umfassende Auswahl des ZDF geschafft haben, stammen in der Regel aus dem Musikbetrieb: Campino (*1962), Sänger und Songwriter der Toten Hosen, Farin Urlaub (*1963), Gründungsmitglieder der Ärzte und Xavier Naidoo (*1971), deutscher Soul- und R&B-Sänger der Söhne Mannheims. Wenn überhaupt scheinen es Musikerinnen und Musiker zu sein, die in ihren Songtexten das Lebensgefühl dieser Generation treffen. Ob Wir sind Helden oder Lady Gaga: Sie liefern den Soundtrack zum eigenen Leben – und das wird zur Identifikationsfläche. Wir sind Helden in unserem je eigenen Film.

Wie sich einer Generation nähern, die sich ihrer selbst so wenig bewusst scheint, dass sie keine gemeinsamen Identifikationsfiguren benennen kann? »Ich sehe dass du denkst / Ich denke dass du fühlst / Ich fühle dass du willst/ aber ich hör dich nicht ich«, so beschreiben Wir sind Helden in ihrem Song Nur ein Wort die Sprachlosigkeit junger Erwachsener. Und in Stiller: »Ich bin nicht stiller
/ nur die Worte fehlen
/ Ich bin nicht stiller
/ nur die Worte verfehlen ihr Ziel«. Judith Holofernes’ brillante Songtexte sind mehr als die Kulisse, vor der sich eine sprachlose, verlängerte Adoleszenz vollzieht. Sie sind zugleich Vergrößerungsgläser, mit denen man die Welt der jungen Erwachsenen mikroskopieren kann.

»Volksparteien Mittelspur Abgrenzung im Notfall nur zur Fönfrisur«

»Womit beeindruckt man die Welt? Na ja, ein Held wär gut / Womit beeindruckt man den Held? Ein bisschen Geld wär gut.«
(aus: Dumm, die dumm) Lassen sich auch schwer personifizierte Leitfiguren der jungen Erwachsenen benennen, fällt es umso leichter, Leitkulturen zu identifizieren: Mark Zuckerberg hat mit Facebook und der Social Culture der Sozialen Netzwerke den Interaktions- und Selbstvergewisserungsrahmen im Web 2.0 schlechthin geschaffen, Steve Jobs mit der iCulture die passenden Kultprodukte. Die Fäden dieser Leitkulturen ziehen globale, hochproduktive Unternehmen, deren zum großen Teil immaterielle Produkte eine gespenstische Sogwirkung entwickeln, weil sie bieten, was alle brauchen: Bühnen und Netze, Kommunikation und Nähe in einer globalen Welt.

»Womit erobert man das Land? Ein bisschen Tand wär gut
/ Ein Diamant aus Glas, ein Freundschaftsunterpfand wär gut
/ Ein gülden plastikernes Band für jede Hand wär gut
/ Und wenn auch nicht grade ein Schloss dann doch ein Dachgeschoss aus Sand«
(aus: Dumm, die dumm) »Leitbild« ist eine gebräuchliche Vokabel in Grundsatzprogrammen aller politischen Couleur: Als »Leitbilder« bezeichnet die SPD die »politische Union« die allen Europäern demokratische Mitwirkungsrechte gibt, ebenso wie die »solidarische Stadt«, die alle zu gestaltender Teilhabe einlädt, die »Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse«, die »demokratische Schule« sowie die Familie, in der »Mutter und Vater gleichermaßen für Unterhalt und Fürsorge verantwortlich sind«. Zentrale normative Leitbilder der GRÜNEN sind Nachhaltigkeit, Ökologie und Gleichberechtigung. Die CDU zeichnet als Leitbild eine »Chancengesellschaft«, die »für Respekt vor Leistung und Erfolg«, eine »Balance von Entfaltung und Verantwortung, von Freiheit und Sicherheit« steht, die CSU spricht vom Leitbild einer »solidarische Leistungsgesellschaft«.

Leitbild wird zur leeren Vokabel, zum Sammelbegriff positiv belegter, großer Substantive, der sich beliebig über immer neue Lebenszusammenhänge stülpen lässt: »Volksparteien Mittelspur Abgrenzung im Notfall nur zur Fönfrisur
/ Börsengang Abgesang mitgehangen mitgefangen alle bangen
/ Dotcomsterben doch nichts erben Brot erwerben Traum in Scherben – weiter werben« (aus: Heldenzeit) Programmatische Leitbilder werden von medienaffinen Digital Natives schneller als Slogans, als Images enttarnt, als sie für die großen Ideen, auf die sie verweisen, Begeisterung entwickeln könnten. Parteienbindungen nehmen rapide ab. Was bleibt, ist Skepsis. Während in den letzten Jahrzehnten häufig die Politiker, die tatsächlich an der Macht waren, als Leitfiguren mit Autorität und Charisma fungierten (Willy Brandt oder Konrad Adenauer etwa), sind es heute eher die in repräsentativen Ämtern, die Randfiguren der Parteien: Intellektuelle wie Gesine Schwan und Joachim Gauck, deren Wertorientierung und freies Denken Parteien sich leisten, um es dem eigentlich wirkmächtigen Situationismus der politischen Entscheider entgegenstellen. Was bleibt, ist eine Irritation, eine Nichtidentifikation mit politischen Prozessen: »Wann wurde abgestimmt wer hat das vorgeschlagen?
/ Ich glaube es stimmt bestimmt aber ich wollte doch mal fragen sag mal:/ Ist das so? Ich meine muss das so?
/ (…) Ist das so oder ist es vielleicht viel leichter?« (aus: Ist das so)

Wichtiger als die Gestaltung einer lebenswerten, gerechten Gesellschaft scheint jungen Erwachsenen die Gestaltung einer lebenswerten, leistungsgerechten Berufsbiographie zu sein. Denn die ist für die Generation Praktikum, deren Berufseinstieg sich jahrelang hinziehen kann, zu einer tatsächlich schwer zu meisternden Aufgabe geworden: »Hast du gehört du sollst den Tag nicht vor der Arbeit loben
/ Und nach der Arbeit dann im Gleichschritt durch den Abend toben
/ Willst du für immer weiter zappeln zwischen nichts und oben
/ Fühlst du dich aufgehoben sag fühlst du dich aufgeschoben?« (aus: Ist das so) Die Erwartungen an ein gelungenes Berufs- und Privatleben sind höher als je zuvor, mit ihnen wachsen die Hürden. Frustration und ein Bewusstsein von der eigenen Entbehrlichkeit in Politik und Wirtschaft sind die Folge: »Denkst du nicht auch, die Welt – und ich meine/ natürlich die eine – dreht sich längst von alleine / Denkst du nicht auch, wenn wir verschwänden / dass sich genug Andere zum Drehen fänden / … / Ein kurzes Glimmen, dann ein Verschwimmen,
/ dann ein Verschwinden und mit den Jahren
/ oder auch Stunden oder Sekunden
/ schließt sich die Welt da wo wir waren« (aus: Lass uns verschwinden) Braucht man uns noch?

»Ändere alles, was du kannst / aber wehr dich nicht mehr«

»Womit schreibt man sich ins All? Na ja, ein Knall wär gut / Ein wilder Aufstieg ein kometenhafter Fall wär gut«
(aus: Dumm, die dumm) Immer schneller produzieren Medien mit ihren Stars Leitfiguren von immer kürzerer Halbwertszeit. Die Fülle der Identifikationsangebote ist immens. Junge Erwachsene wählen aus dieser Fülle nicht die Persönlichkeit, hinter der sie stehen und zu der sie passen, sondern sie wählen, was zu ihnen passt: »Du musst hier nicht dazugehören, aber such dir, was zu dir gehört« (aus: The Geek shall inherit) Damit verschwinden die großen, interdisziplinären Autoritäten, die – wie etwa Günter Grass – zu allem etwas zu sagen hatten und wagten. Thematische Netzwerke entstehen, die weniger prominente, oft sogar anonyme Autoritäten verbinden, Netzwerke wie Attac oder WikiLeaks. Ihrer kollektiven Intelligenz vertrauen junge Erwachsene in den großen Fragen eher als prominenten Meinungsführern.

Ihren Ängsten begegnen viele junge Menschen weniger mit großen Utopien als mit Pragmatismus: »Ändere alles was du kannst
/ aber wehr dich nicht mehr
/ Ändere alles was du musst
/ aber wehr dich nicht mehr« (aus: Hände hoch) Was daraus entstehen kann, ist grundverschieden. »Es gibt nichts, was wir tun könnten,
/ außer uns auszuruhen« (aus: Nichts, was wir tun könnten), fühlen die einen – und resignieren. Die anderen machen sich den Kopf frei von den Träumen andere Leute und träumen eigene: Sie sind die eigentlichen Leitfiguren der jungen Generation. Menschen wie Katja Urbatsch (*1979), Gründerin der Initiaive arbeiterkind.de, die die Social Culture des Vernetzens für ein wichtiges soziales Projekt nutzt. Menschen wie Hanna Poddig (*1985), Aktivistin und Gesellschaftskritikerin, die vorlebt, dass man radikal anders leben kann. Und natürlich, unbestreitbar: Menschen wie Judith Holofernes (*1976), Sängerin und Texterin der Band Wir sind Helden, die mit der Schärfe ihres Blicks und großer Poesie ihrer Generation hilft, sich selbst zu verstehen.

Alle Songtexte von Wir sind Helden sind nachzulesen auf der Website der Band: http://www.wirsindhelden.de/

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