Der Zwang zur Freiheit. Freundschaft und Liebe im digitalen Zeitalter
Von Susanne Krones (Neue Gesellschaft Frankfurter Hefte 10/2011, S. 68ff.) – Eine Revolution hat sich ereignet, unbemerkt, doch folgenschwerer als viele vor ihr. Das Internet hat nicht nur Wirtschaft, Medien und Meinungsbildung verändert, sondern auch die Art und Weise, wie wir lieben. Damit gibt das Netz einem Wandel Ausdruck, der sich längst vollzogen hat: Die freie Gesellschaft ist zur Suchmaschine geworden, die uns unaufhörlich die Palette ihrer Möglichkeiten anbietet und zu Entscheidungen zwingt. Das gilt nicht nur für Waren, Informationen und Meinungen, sondern auch für Freundschaft und Liebe.
89 Prozent der 14- bis 29-Jährigen sind regelmäßig im Social Web und nutzen Plattformen wie Facebook, Lokalisten oder StudiVZ. Medien, Musik, Menschen – alles konsumieren sie, mit allem interagieren sie ebenso im Netz wie in der realen Welt. Das Netz passt zu der Welt, in die sie geboren wurden: Freier als jede Generation zuvor wählen sie Freunde, Länder, Studienfächer, Lebensmodelle, Partnerinnen und Partner. Keine Grenzen scheinen sie zu binden. Die Digital Natives (Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene, die mit den digitalen Technologien, mit Internet und Mobiltelefon aufgewachsen sind) mögen eine Avantgarde dieses Gesellschaftswandels sein; letztlich betrifft er uns alle.
Elke Reichart lässt in gute-freunde-boese-freunde. leben im web Experten und Digital Natives von den Bedingungen erzählen, unter denen sich Freundschaften in sozialen Netzwerken entwickeln. Johannes Boie, Redakteur der Süddeutschen Zeitung, ärgert sich, wenn Medienkritiker eine Entwertung der Freundschaft im sozialen Netz beklagen, seien sich doch die Nutzerinnen und Nutzer sehr wohl bewusst, dass ein Unterschied zwischen virtueller Verbundenheit und realer Freundschaft, zwischen Freunden und Facebook-Freunden, bestünde. Beides könne einander auch gut tun: »Digitale Beziehungen sind eine Bereicherung zu bestehenden Freundschaften. Und sicher werden bestehende Freundschaften durch die digitalen Möglichkeiten verändert. Was sicher nicht stattfindet, ist dagegen ein grundsätzlicher Verlust an Tiefe und Bedeutung in und von Freundschaften.«
Im Gegenteil, Kontakte halten länger, insbesondere die, die einst flüchtig waren – Urlaubs- und Zufallsbekanntschaften, Freundschaften, die beim Schüleraustausch oder während eines Auslandspraktikums entstehen. Auch die viel beklagte Inszenierung der eigenen Persönlichkeit in sozialen Netzwerken sei nicht spezifisch für das Medium, sondern für das Lebensalter und hätte auch in analogen Zeiten ihre Entsprechung gefunden. Ein weit bedeutenderer Effekt, so Boie, sei die Verschmelzung von Lebenswelten, die durch soziale Netzwerke forciert wird. Unsere beruflichen und privaten Identitäten, die wir im realen Leben sorgfältig trennen können, verschmelzen in unseren Online-Profilen.
Insgesamt bedeutet das: Die Zahl unserer Freunde wächst rasant, sie verteilen sich auf immer mehr Länder und Sprachräume, auf private, berufliche und öffentliche Lebenswelten. Das bedeutet auch: Freundschaften zu leben wird komplizierter. Freundschaft muss anders organisiert werden, professionalisiert beinahe. Liebe ebenso.
Digital Natives haben längst neue Strategien entwickelt, Freundschaften zu knüpfen und zu festigen. Vieles, was früher mündlich oder gar persönlich kommuniziert wurde, wechselt in die Schriftform. Knappe Botschaften werden ausgetauscht, halböffentlich in den Statusmitteilungen der sozialen Netzwerke, intim als SMS auf das Mobiltelefon der Geliebten oder Freunde.
In dieser Kürze transportieren sie Inhalte nicht nur anders, sondern auch andere Inhalte als der klassische Brief. Die Liebesbriefe des 21. Jahrhunderts haben nicht einmal Postkartenlänge und sind häufig interaktiv. Bilder, Videos und andere Verlinkungen werden zur indirekten Botschaft. Caroline Kikisch, Kulturwissenschaftlerin, versteht die Kürze und Häufigkeit dieser Botschaften auch als Strategie, über räumliche Distanzen Nähe herzustellen: »Denn jede Regung sagt zumindest: Ich denke an dich und ich möchte das mit dir teilen.«
Freundschaft und Liebe werden nicht nur online gepflegt, auch der Moment des Kennenlernens und sich Verliebens vollzieht sich immer häufiger online. Wem das passiert, der stellt eine merkwürdige Ungleichzeitigkeit fest: Längst hat man sich per Mail oder im Chat sehr viel mehr Persönliches erzählt, als man es bei einem Kennenlernen in der Kneipe je getan hätte. Doch soviel anderes fehlt: Stimme, Ausstrahlung, spontane Reaktionen. Gehen beide dann zu persönlichen Treffen über, dauert es lange, bis die Realität eingeholt, was im Netz längst gewachsen ist. Eine irritierend neue Erfahrung für alle, die sie zum ersten Mal machen. Beim zweiten und dritten wird auch zur Routinesituation des digitalen Zeitalters, in dem ein großer Teil aller Beziehungen im Netz beginnt.
Dass Social Media schon lange kein Hype mehr ist, sondern Ausdruck eines strukturellen Gesellschaftswandels, der nicht mehr aufzuhalten ist, beobachtet Berater Lukas Adda: »Die Digital Natives weisen jetzt schon komplett andere Verhaltensweisen auf. Sie denken anders, sie suchen anders, sie verhalten sich anders – das Internet ist ein fester Bestandteil ihrer selbst.« Elena Margulis, Studentin und mit 23 selbst Digital Native, spürt die Überforderung doch, die das bedeutet, und empfindet sie doch als normalen Teil ihres gesellschaftlichen Lebens: »Wir sind multiple Persönlichkeiten. Was früher als Krankheit galt, ist heute Lifestyle«, konstatiert sie in gute-freunde-boese-freunde.
Gegenwart als Provisorium: Suchmodus in Dauerschleife
Ein Phänomen, das – von der Rückseite betrachtet – auch Sven Hillenkamp beobachtet, der in seinem großen Essay Das Ende der Liebe. Gefühle im Zeitalter unendlicher Freiheit eindrucksvoll die Konsequenzen beschreibt, die der Zwang zur Freiheit auf unser Leben und Lieben hat. Die Tatsache, dass wir fortwährend freie, gesellschaftlich nicht reglementierte Entscheidungen treffen können, führt dazu, dass die Menschen das Äußere als Inneres, das Gesellschaftliche als Psychisches wahrnehmen.
Die freien Menschen, so Hillenkamp, hätten den Glauben an die Soziologie verloren, „an die Gesellschaft als Hindernis“. Alles sei für sie Psychologie und liege in der Verantwortung des Individuums, das seine Chancen nur nutzen müsse: Frauen glauben nicht mehr an Frauenfeindlichkeit und Geschlechtergrenzen, Arbeiter glauben nicht mehr an Klassengrenzen, Kranke glauben, Stress oder eine falsche Lebensweise hätten sie krank gemacht. Schuld an seiner Situation, so Hillenkamp, fühle sich jeder selbst.
Das permanente Optimieren der eigenen Situation macht den Suchmodus zur Normalität: Menschen hören nicht auf zu suchen, wenn sie eine Wahl getroffen haben, sie sind nur ihrer Hoffnung treu. »Die Menschen trennen sich jetzt nicht mehr, weil die Liebe sich in Schweigen, in Krieg verwandelt hätte; sondern weil sie unzufrieden sind. Weil etwas fehlt. Sie hatten anderes erwartet. Die Menschen trennen sich nicht mehr nach, sondern vor der Liebe.«
Wir relativieren und vergleichen unentwegt, empfinden die Gegenwart als ein Provisorium, das durch einen erfüllenderen Job, einen passenderen Partner aufgewertet werden könnte – eine Haltung, die Erfüllung unmöglich macht: »Jeder Mensch versagt vor seinen unbegrenzten Möglichkeiten. Keiner erreicht, was er erreichen könnte.« Der Mensch, der sich vor kurzem noch im Kampf mit herrschender Ordnung und gesellschaftlichen Normen befand, befindet sich jetzt im Kampf mit sich selbst.
Bulimie der Liebe: Der Zwang zur Freiheit
Sven Hillenkamp diagnostiziert: »Die freien Menschen sind Bulimiker der Liebe, der Städte und Länder, der Berufe, Kleider und Freunde. Sie stopfen alles in sich hinein, würgen es hinunter und – bevor es zu ihrem Körper werden kann – erbrechen sie es wieder.« Ein Teufelskreis, aus dem es keinen Ausweg gibt in einer Welt, der das Schicksal abhanden gekommen scheint: »Wer der Gefühl hat, alles in seinem Leben sei Schicksal, ist auch in der Fremde noch zu Hause, auch im Unglück noch bei sich. Er ist ja sein Leben, das er lebt, sein Schmerz, sein Weg in die Fremde. Wer dagegen das Gefühl hat, alles in seinem Leben sei Zufall, ist immer und überall fremd, auch im Glück noch entfremdet, nicht glücklich.«
Die Menschen des digitalen Zeitalters leiden darunter, dass einerseits das Glück für sie zur Folge ihres persönlichen Handelns geworden ist, sie aber andererseits mit einer solchen Menge an Alternativen konfrontiert werden, dass jede Wahl als willkürlich und zufällig erscheinen muss. Das Internet mit den Suchmasken seiner sozialen Netzwerke und seiner Websites zur Partnersuche wird zum Werkzeug des digitalen Zeitalters. Es vollzieht mit seinen Matching-Prozessen technisch, was in der Gesellschaft längst Realität geworden ist: »Die Menschen ersetzen Vorherbestimmung durch Übereinstimmung, Fügung durch Matching. Das Glück, den Einzigen gefunden zu haben, wird ersetzt durch die Zufriedenheit, einen Übereinstimmenden gefunden zu haben.«
Wo die Möglichkeiten unbegrenzt sind, entsteht ein Zwang zur Freiheit, auch in Liebesbeziehungen und Freundschaften. Das, so Fazit von Sven Hillenkamp, muss man sich bewusst machen, um nicht krank an der Situation zu werden, in die man gestellt ist. Elke Reicharts gute-freunde-boese-freunde zeigt jungen Erwachsenen aus verschiedensten Perspektiven, wie soziale Beziehungen im Web gelingen können: Indem man die Welt nicht aus den Augen verliert, über die das weltweite Netz sich spannt.
Sven Hillenkamp: Das Ende der Liebe. Gefühle im Zeitalter unendlicher Freiheit. Klett-Cotta, Stuttgart 2009, 311 S., € 22,95.
Elke Reichart: gute-freunde-boese-freunde. leben im web. Mit Fotografien von Doris Katharina Künster. dtv Reihe Hanser, München 2011, € 8,99.