»Wie ich keine jüdische Mutter geworden bin«. Lena Goreliks »Lieber Mischa …«
Von Susanne Krones (Virginia 50/Frühjahr 2012, S. 5) – »Lieber Mischa … es tut mir so leid, dass ich Dir das nicht ersparen konnte: Du bist ein Jude.« Der Satz, mit dem Lena Gorelik ihre Folge von Briefen an ihren neugeborenen Sohn eröffnet, ist Programm: Nach ihrem Debüt »Meine weißen Nächte«, ihrem zweiten Roman »Hochzeit in Jerusalem« und der Reiseerzählung »Verliebt in St. Petersburg« setzt sie sich ein weiteres Mal mit ihren jüdisch-russischen Wurzeln auseinander. Sie führt in ihren Kolumnen mit feiner Ironie und doppelbödigem Humor stilsicher an die Grenzen ihrer Identitäten: »Exotisch zu sein kann anstrengend sein. Jüdisch und russisch gleichzeitig zu sein – das Opfer aus dem Zweiten und der Feind aus dem Kalten Krieg in einem – ist, wie doppelt bestraft zu sein. (Oder doppelt gesegnet.)«
Lena Gorelik kam mit ihrer Familie als Elfjährige in die Bundesrepublik. Aufgewachsen ist sie in Russland, »wo Judentum keine Religion war, sondern eine Volkszugehörigkeit, die im Pass festgehalten wurde, an der Stelle, wo bei allen ›normalen‹ Menschen ›russisch‹ stand.« Inzwischen lebt Gorelik annähernd zwanzig Jahre in Deutschland, wo sie als Journalistin und Schriftstellerin erfolgreich ist. Immer wieder sind es erst die Zuschreibungen von außen, die es kompliziert machen können, Jüdin, Russin, Deutsche, Frau, Mutter und eine der wichtigen Stimmen der jungen deutschsprachigen Literatur zugleich zu sein.
Jüdische Identität bedeutet für die Autorin vor allem, sich immer wieder mit dem Erwartungsdruck konfrontiert zu sehen, sich »als Jüdin« zu äußern. Wenn es etwas gibt, worauf sie ihren Sohn vorbereiten möchte, dann auf den Umgang mit dieser ungewollten Ausnahmesituation: »Ich will nicht, dass jemand aufhört, über Michel Friedmann zu lästern, wenn ich den Raum betrete. Ich will mich nicht für Israels Politik verantworten müssen. Meistens will ich nur in Ruhe gelassen werde. Ich will, nun, da ich Mutter bin, vor allem auch, dass du in Ruhe gelassen wirst.«
Goreliks Auseinandersetzung mit der eigenen Identität bekommt durch die Geburt ihres ersten Kindes eine neue Dimension, und die wiederum hat wenig mit ihrer jüdischen Herkunft zu tun. Wie jeder jungen Frau stellt sich ihr mit Berufstätigkeit und Familiengründung eine in einem Land, in dem zumindest auf dem Papier Gleichberechtigung besteht, bisher ausgeklammerte Identitätsfrage: »Ich erinnerte mich vage an meine Angst, dass mein Leben als Mensch mit dem Beginn des Lebens als Mutter vorbei sein könnte.« Gorelik macht im München des Krippennotstands und der Hausfrauenförderpolitik irritierende Erfahrungen mit den unterschiedlichen Erwartungen an Mütter und Väter, die ihre Elternpflichten eigentlich partnerschaftlich teilen wollten. »›Wie, du willst wieder arbeiten?‹ – ›Ich arbeite längst wieder. Ich war schon zwei Wochen nach seiner Geburt im Literaturhaus.‹ – ›Und er? Er war alleine?‹ – ›Nee, der war beim Papa.‹ – ›Allein?‹ – Und daraufhin Dein Vater, seelenruhig: ›Nein, der Hund war auch noch da.‹«
Wieder ist es nicht die Sache selbst (das Kind, die Religion), die zu Komplikationen führt, sondern absurde Erwartungen von außen, die ebenfalls wenig mit der Sache selbst, sondern mit ungelösten Konflikten dessen, der sie äußert, zu tun haben.
So, wie praktizierende Philosemiten – für Gorelik nervenaufreibendes Pendant der Antisemiten – ihre Lesungen vorgeblich aus Interesse an jüdischer Kultur, in Wahrheit aber auf der Suche nach Katharsis besuchten, seien Konvertiten (»Überjuden, so wie es auch Übermütter gibt«), immer verzweifelt mit dem Versuch befasst, sich eine neue Rolle ganz und gar anzuverwandeln. Wie Goreliks Kommilitonin, die »von Nichtmutter zu Mutter konvertiert … nicht mehr von dieser Welt« schien – und nicht mehr anrief, nachdem sie erfahren hatte, dass Mischa bereits zwei Wochen nach seiner Geburt einen Abend allein mit Papa verbracht haben soll.
Goreliks entwaffnender Humor im Spiel mit ihren jüdischen Wurzeln erlaubt ihr alles, von einer Top Ten der berechtigten antisemitischen Vorurteile bis zu zehn Geboten für G“tt. In feinster Selbstironie spinnt sie eine Passage von Spekulationen über die spätere Ehe ihre Neugeborenen: Was wenn Mischa eine katholische Maria mit nach Hause brächte, was, wenn es eine agnostische Hinduistin wäre? Natürlich ginge das Glück des Sohnes vor, aber: »Es wäre vielleicht doch nett, wenn du eine Jüdin heiraten würdest. Oder einen Juden.«
Letztlich wird Goreliks Buch durch Pointen wie diese zu einer doppelten Liebeserklärung: an ihren Sohn, aber auch an ihre Religion, deren Diskussionskultur, Weltoffenheit und Witz ihr solche Pointen erlaubten. »Eines noch: Lieber kleiner Mischa, Du bist ein Jude. Etwas Besseres hättest Du nicht werden können.«
Lena Gorelik: Lieber Mischa … der Du fast Schlomo Adolf Grinblum geheißen hättest, es tut mir so leid, dass ich Dir das nicht ersparen konnte: Du bist ein Jude …. GrafVerlag: München 2011