»Es ist komisch, wenn ich etwas ganz für mich allein habe«. Emma Donoghues Welterfolg »RAUM«
Von Susanne Krones (EMOTION 4/2012, online) – Was bedeutet es, Kinder aufzuziehen? Eine hinreißende Mutter-Kind-Geschichte, erzählt aus der Sicht eines Fünfjährigen, dem es an nichts fehlt außer an Freiheit. Er hat den Raum, in dem seine Mutter ihn geboren hat, noch nie verlassen.
Was Emma Donoghue in ihrem Welterfolg »Raum« unternimmt, ist außergewöhnlich: Der Roman erzählt die schockierende Geschichte eines Fünfjährigen, dessen Mutter einige Jahre vor seiner Geburt gekidnappt wurde. Er selbst ist in Gefangenschaft geboren worden und hat den Raum noch nie verlassen. Eine Geschichte, die sprachlos machen könnte. Doch Emma Donaghue erzählt sie auf hinreißende Weise als die Geschichte einer Mutter-Kind-Beziehung, deren gegenseitige Liebe den beiden die Kraft zum Überleben gibt.
Hinreißende Mutter-Kind-Geschichte
Als reale Vorlage diente Donoghue unter anderem der Fall Elisabeth Fritzl, die vom ihrem Vater mit ihren Kindern eingesperrt und versteckt gehalten wurde. Der Stoff interessierte die erfahrene Autorin: Ein Kind, das in einer modernen, europäischen Großstadt in Gefangenschaft geboren, versteckt und isoliert von der Außenwelt aufgezogen wird. Jack, der fünfjährige Held ihres Romans, so Donoghue, »hat alles, was er braucht, bis auf eines der wesentlichsten Dinge überhaupt – Freiheit. Mir kam der Gedanke, dass womöglich gerade eine solch ungewöhnliche Situation uns etwas lehren könnte über die conditio humana, die Bedingungen unseres Menschseins. Vielleicht würde sich ja herausstellen, dass die Geschichte von Jack und Ma in gewisser Weise unser aller Geschichte ist.«
Dass das gelingt und jede Leserin sich in dieser Ausnahmekonstellation wiederfinden kann, ist das Sensationelle an Donoghues Buch, in dem sie nicht nur Sprache, sondern auch Wahrnehmung und Gefühlswelt des Fünfjährigen mit einer beeindruckenden Genauigkeit zu imitieren versteht. Als sie mit der Arbeit an »Raum« begann, war ihr eigener Sohn vier, ihre Tochter gerade ein Jahr. Für Jack ändert sich alles, als die beiden durch eine spektakuläre Aktion, für die er seinen ganzen Mut aufbringen muss, frei kommen. Schon »in Raum« hat ihn jedes Geheimnis, das er vor seiner Mutter hatte, irritiert: »Es ist komisch, wenn ich etwas ganz für mich allein habe, ohne Ma. Alles andere gehört uns beiden zusammen. … Und wenn ich ihr sage, was ich denke, und sie mir sagt, was sie denkt, dann springen die Ideen von jedem von uns in den anderen Kopf, so wie wenn man mit blauem Buntstift über gelben malt, dann wird grün draus.«
Was es bedeutet, Kinder großzuziehen
Emma Donoghue wurde 1969 als jüngstes von acht Kindern in Dublin geboren, studierte in Heimatstadt sowie an der renommierten Universität Cambridge, bis sie nach einem Aufenthalt in London 1998 nach Ontario in Kanada auswanderte, wo sie mit ihrer Lebensgefährtin und ihren beiden Kindern lebt. Ihr Roman »Room«, ins Deutsche übersetzt von Armin Gontermann, wurde in 29 Länder verkauft. Was Donoghues Buch von Romanen über vergleichbare Szenarien abhebt, ist ihre Konzentration auf Jack und seine Mutter, die beiden Gefangenen. Den Kidnapper, der in grausamer Regelmäßigkeit Besuche im Raum abstattet, blendet sie aus: Nicht die Bosheit von Old Nick fasziniert sie, sondern die Widerstandskraft von Ma und Jack: »Ihr alltäglicher Kampf ums Überleben und ihre Kunstgriffe, mit denen sie unter eigentlich untragbaren Gegebenheiten mehr oder weniger gedeihen.« Genau das ist es, was das Buch zu einer großartigen Parabel darüber macht, was es bedeutet, Kinder großzuziehen – unter welchen Umständen auch immer.
Emma Donoghue: Raum. Piper: München 2011