Ist die römisch-katholische Kirche noch zu retten? Nicht, wenn sie die falschen Freunde hat
Von Susanne Krones (»Der Reformbedarf der katholischen Kirche«, in: Neue Gesellschaft Frankfurter Hefte 7-8/2012, S. 107) – Es schien sich etwas zu bewegen in der römisch-katholischen Kirche, seit die öffentlich gewordenen Skandale um sexuellen Missbrauch innerhalb kirchlicher Einrichtungen die Menschen erschüttert und die Medien wieder stärker auf die unterschiedlichen Dimensionen dieser Krise aufmerksam gemacht haben, die vor allem eine Krise der Kirchenführung ist. Jahrzehntelang wurde sexualisierte Gewalt vertuscht.
144 Theologieprofessoren haben ein kluges und fachlich fundiertes Memorandum unterzeichnet, in dem sie mit guten Gründen die Aufhebung des Zölibats, die Priesterweihe für Frauen, die Segnung gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften sowie Basisdemokratie in den Gemeinden fordern. Zum Katholikentag 2012 in Mannheim versammelten sich über 80.000 Gläubige unter dem Motto »Einen neuen Aufbruch wagen«. Mit jedem dieser progressiven Aufbrüche allerdings scheint mehr als ein rückwärtsgewandter Abbruch seitens der Amtskirche einherzugehen.
Im Herbst 2010 hat die Deutsche Bischofskonferenz in einem Brief an alle Katholiken ihrer Bistümer ein zweijähriges kirchliches »Zukunftsgespräch« angekündigt, eine dringend notwendige Dialoginitiative, die bereits um die Jahreswende 2010/11 wieder ins Stocken geriet. Benedikt XVI. verantwortet liturgische Rückschritte und eine Wiedereinführung von vorkonziliaren Sitten (etwa der mittelalterlichen Tridentinischen Messe), die Theologen massiv kritisieren: »Das Abendmahl Jesu«, so der Schweizer Theologe Hans Küng, »ist in solchen Pontifikalmessen jedenfalls kaum mehr zu erkennen.«
Benedikt XVI., so Küng, relativiere immer wieder die Konzilstexte, interpretiere sie gegen den Geist der Konzilsväter und stelle sich ausdrücklich gegen das Ökumenische Konzil, das nach der großen katholischen Tradition die oberste Autorität in der katholischen Kirche darstellt. Mehr noch: Der deutsche Papst hat außerhalb der katholischen Kirche illegal ordinierte Bischöfe der traditionalistischen Pius-Bruderschaft ohne Vorbedingungen in die Kirche aufgenommen, er schürt ein tiefes Misstrauen gegenüber den evangelischen Kirchen, realisiert nicht die in den offiziellen ökumenischen Dokumenten vorgezeichnete Verständigung mit der anglikanischen Kirche, sondern lockt anglikanische Geistliche unter Verzicht auf die Zölibatsverpflichtung in die römisch-katholische Kirche und stärkt mit seiner Personalpolitik die konzilsfeindlichen Kräfte.
Es scheint, als gäbe es in dieser Situation nicht mehr als zwei mögliche Szenarien: Die römisch-katholische Kirche schrumpft zu einer kleinen, radikalen Gruppe oder findet im Großen tatsächlich Willen und Mut zu neuem Aufbruch. Einer konstruktiven, argumentativ und organisatorisch starken Opposition geben selbst engagierte Katholikinnen und Katholiken nur noch geringe Chancen. Zu mächtig scheint der Macht- und Finanzapparat der Amtskirche, der mit höchst weltlichen Mitteln, mit effizienter Organisation und professionellem Einsatz der Massenmedien mit der Professionalität einer Diktatur an der eigenen Fassade arbeitet. Und: Zu wenige Katholiken spielen aktuell im gesellschaftlichen, politischen und medialen Leben der Bundesrepublik eine Rolle. Diejenigen, die sich vor breiten Publikum – in Talkshows, Feuilletons und populären Sachbüchern – als Katholiken äußern, sind häufig mehr an Provokation und Selbstdarstellung als an einer ernsthaften Auseinandersetzung zum Wohl des Katholizismus in Deutschland interessiert.
Das katholische Abenteuer
»Ich weiß, das kann peinlich werden«, schreibt Matthias Matussek am Beginn seiner Streitschrift Das katholische Abenteuer. Es bleibt einer von wenigen Sätzen, denen man uneingeschränkt zustimmen kann. Matussek versucht nach eigener Aussage, mit diesem Buch »ein Lebensthema einzukreisen in biographischen Erinnerungen, Polemiken, Essay und Reportagen«. Das führt zu einem unausgegorenen Sammelsurium, das eines nicht ist: eine Auseinandersetzung zum Wohl des Katholizismus. Matussek selbst, leidenschaftlicher Anhänger Benedikts des XVI., macht keinen Hehl daraus, dass seine Position sich auf eine schlichte Provokation innerhalb des Diskurses gründet: »Ich bin kein Vorzeige-Katholik, aber dennoch bin ich seit neuestem so leidenschaftlich katholisch, wie ich vor vierzig Jahren Marxist war. Warum? Weil mein Verein angegriffen wird.«
Entsprechend wenig fundiert und fehlerhaft ist seine Argumentation: »Mein Katholizismus ist übrigens nicht demokratisch. Er ist nicht konsensabhängig. Glaubenswahrheiten sind keine Abstimmungssache. Mein Katholizismus ist auf dunkle Art monarchistisch.« Sein Katholizismus, in der Tat – schließlich ist das einfältige Diktum, die Kirche sei keine Demokratie, mit dem Reformgegner gerne operieren, vom neuen Testament nicht gedeckt. Die Kirche, so der renommierte Theologe Hans Küng, sei im neutestamentarischen Verständnis alles andere als eine geistliche Diktatur: »Eher als mit einer Monarchie (Herrschaft eines Einzelnen) oder einer Theokratie (Herrschaft einer heiligen Kaste) ist sie mit einer Demokratie zu vergleichen: einer Herrschaft des ganzen heiligen Volkes.«
Kritische Stimmen wie die der 144 Theologieprofessoren, die das Memorandum unterzeichnet haben, qualifiziert er als unsinnige Forderung eines Protestantismus innerhalb der römisch-katholischen Kirche ab und verschweigt, dass mit den Alt-Katholiken auch innerhalb der katholischen Kirche zahlreiche Gemeinden existieren, die diese Forderungen längst leben. »Warum Frauen in Priesterkleidern ein Zeichen dafür sind, dass man in religiösen Fragen weiter ist, mag ein Rätsel der Bekleidungsindustrie bleiben« – allein eine solche Bemerkung entlarvt Matussek als einen, dem es um nichts anderes als plumpe Polemik geht.
Agenda für ein Zukunftsgespräch
Im Gegensatz zu Matusseks Streitschrift ist Hans Küngs fundiert recherchiertes, historisch korrektes und in der Agenda für ein Zukunftsgespräch sachlich angemessenes Buch Ist die Kirche noch zu retten? ein ernst zu nehmender Debattenbeitrag. Man merkt Küngs sachlichem, verhaltenem und doch pointiertem Text an, dass er dieses Buch lieber nicht geschrieben hätte und ihn erst der Restaurationskurs der letzten drei Jahrzehnte unter den Päpsten Karol Wojtyla und Joseph Ratzinger mit seinen fatalen und für die gesamte christliche Ökumene dramatischen Auswirkungen dazu zwingt.
Die römisch-katholische Kirche, so Küngs zentrale These, leide unter dem römischen Herrschaftssystem. Ziel seines Buches ist es, die historische Wahrheit von den christlichen Ursprüngen her gegen alle Vergesslichkeiten, Verschleierungen und Vertuschungen darzustellen. Küng geht es nicht darum, das Papsttum abzuschaffen, sondern es im Sinn eines biblisch orientierten Petrusdienstes zu erneuern: »Abgeschafft werden aber soll der mittelalterliche römische Herrschaftssystem.«
Als Katholikin kann einen der drastische Abbau der Seelsorge, der an Quantität und Qualität abnehmende Nachwuchs an Priestern und Ordensleuten nur bekümmern. Die Haltung eines Papstes, der die Missbrauchsfälle zwar bedauert, aber zu seiner persönlichen Verantwortung schweigt (als Vorsitzender der römischen Glaubenskongregation sammelte er schon unter Papst Johannes Paul II. unter strengster Geheimhaltung die Fälle klerikaler Sexualvergehen), muss einen zutiefst beschämen. Christlicher müssen die christlichen Kirchen sein.
Küngs Diagnose, die Krise der Kirche fuße auf dem römischen Herrschaftsanspruch, einer monarchisch-absolutistisch-zentralistische Einheitskirche, die sich vorwiegend auf dem römischen Kirchenrecht und auf im Osten völlig unbekannten und großenteils gefälschten, römischen Dekreten gründet, ist so wahr wie verheerend. Die Führung dieser Kirche hat sich Kirche zur Beute gemacht, sie dient ihr nicht mehr, sondern missbraucht sie in unbiblischer Weise zum weltlichen Machterhalt. Drei Beispiele:
Erstens das römisches Macht- und Wahrheitsmonopol, das den biblischen »Petrusdienst« in eine unbiblische »Petrusherrschaft« verkehrt hat. Hans Küng fordert die Rückkehr vom »absoluten Herrschaftsprimat« zum »pastoralen Dienstprimat.«
Zweiten Juridismus und Klerikalismus: Die hierarchisch-monarchische Kirche stellt eine völlige Verkehrung der neutestamentlichen Kirchenordnung dar, die auf Gleichheit, auf Brüderlichkeit und Schwesterlichkeit beruhte und die, so Küng, »um einer christlicheren Kirche willen wieder neu zur Geltung zu bringen ist«.
Drittens die Sexual- und Frauenfeindlichkeit der römisch-katholischen Kirche: Das Zölibatsgesetz ist keine Glaubenswahrheit. Als Kirchengesetz aus dem 11. Jahrhundert hätte es bereits auf den Einspruch der Reformatoren des 16. Jahrhundert hin aufgehoben werden sollen. »Die traditionellen Argumente gegen Frauenpredigt und Frauenordination sind“, so Küng und viele Theologen, „theologisch fragwürdig und kaum zu halten.«
Küng fordert als Norm für Kirchenreform kein selbstfabriziertes Kirchenrecht, sondern nichts anderes als der in der Bibel bezeugte geschichtliche Jesus Christus: Die Kirche müsse ihre Kernfunktionen stärken und zugleich ihre gesellschaftliche Verantwortung wahrnehmen. Die allen Christen gemeinsame Taufe lasse nicht zu, dass sich eine einzelne Konfession »als alleinseligmachende versteht und verhält und dass sich die verschiedenen christlichen Konfessionen wegen ihrer Lehrgegensätze diskriminieren und exkommunizieren«.
Küngs christliche Vision ist durch drei Charakteristika bestimmt: Eine christliche Radikalität, die sich nicht nach einem Zeitgeist, soziologischen oder praktischen Erwägungen richtetet, sondern nach der christlichen Ur-Kunde selber, eine Konstanz ohne Rücksichten auf Opportunität und Konzessionen und eine Kohärenz, die die einzelnen Reformforderungen als Teil einer geschlossenen Gesamtkonzeption betrachtet: »Nicht zu retten ist eine Kirche, die rückwärtsgewandt ins Mittelalter oder in die Reformationszeit oder auch in die Aufklärung verliebt ist. Nicht zu retten ist eine Kirche, die patriarchal auf stereotype Frauenbilder, exklusiv männliche Sprache und vordefinierte Geschlechterrollen festgelegt ist. Nicht zu retten ist eine Kirche, die ideologisch verengt konfessionalistischer Exklusivität, Amtsanmaßung und Gemeinschaftsverweigerung verfallen ist. Nicht zu retten ist eine Kirche, die eurozentristisch ist und einen christlichen Alleinanspruch und römischen Imperialismus vertritt.«
Kirche wird dann eine Zukunft haben, wenn sie am christlichen Ursprung orientiert und auf die Aufgaben ihrer jeweiligen Gegenwart konzentriert ist, wenn sie als partnerschaftliche Kirche Amt und Charisma verbindet und Frauen in allen kirchlichen Ämtern akzeptiert und Ökumene praktiziert. Vor allem aber dann, wenn sie Respekt hat vor der Wahrheit, die immer größer ist, als sie selbst, wenn sie auch von anderen Religionen zu lernen versucht und ihren Einheiten, etwa den Pfarreien, eine angemessene Autonomie lässt.
Man merkt dem Buch von Küng an, das es eines ist, das er nicht schreiben wollte, aber zum Glück geschrieben hat, dem von Matussek, dass er es unbedingt schreiben wollte, aber besser nicht geschrieben hätte. Polemik bringt uns nicht zum Ideal einer biblischen Kirche zurück. Mein Verein wird angegriffen. Von Menschen wie Matussek.
Global Exit
Was bleibt? Die Zahlen sprechen für sich: Offiziellen Zahlen der Deutschen Bischofskonferenz zufolge erklärten 2010 mehr als 181.000 Katholiken ihren Austritt aus der Kirche, 50 Prozent mehr als im Vorjahr. Mehr noch: Unter 13 Prozent der Katholiken nehmen am Gottesdienst teil. Die längst distanzierte, schweigende, aus unterschiedlichsten persönlichen Gründen in der Kirche bleibende Mehrheit wächst.
Was können junge Katholikinnen und Katholiken tun, um in dieser scheinbar aussichtslosen Situation Kirche gestalten? Die Alternativen sind schnell aufgezählt: Austreten oder konvertieren, etwa zur alt-katholischen Kirche, die in den letzten Jahren drei bis vier Eintritt pro Austritt verzeichnen kann. Bleiben, aber das Schweigen brechen, auch, wenn man aneckt. Sich vernetzen, handeln, gemeinsam, etwa in Initiativen wie »Wir sind Kirche«.
Dringend zu wünschen ist, dass mehr und mehr prominente katholische Laien ihre Position nutzen, um konkrete Reformen von der Amtskirche einzufordern und als Resonanzkörper für die Stimmen einzelner Katholikinnen und Katholiken wirken. Die öffentliche Diskussion um die Nachfolge von Christian Wulff im Amt des Bundespräsidenten hat gezeigt, wie beeindruckend viele protestantische Kandidatinnen und Kandidaten die Öffentlich sich in diesem höchsten Staatsamt hätte vorstellen können, Katrin Göring-Eckard, Wolfgang Huber und Margot Käßmann sowie den jetzigen Amtsinhaber Joachim Gauck – wie Angela Merkel protestantisch. Der Protestantismus füllt die Rolle einer christlichen Kirche als moralische Reserve der Republik offenbar noch aus; die römisch-katholisch Kirche scheint in dieser Hinsicht kläglich zu versagen.
Für unsere Gesellschaft ist es tragisch, dass die Führung dieser Weltkirche in einer Weise agiert, die sie jeden moralischen Anspruch verlieren lässt, die ihre Meinung, etwa in Fragen der Bioethik, irrelevant werden lässt, die überdeutlich offenbart, dass diese katholische Kirche nichts zu den großen Fragen ihrer Zeit zu sagen hat, etwa der Spaltung zwischen Arm und Reich, dem Finanzkapitalismus, der Umweltproblematik, von den Veränderungen durch die Digitalisierung und Beschleunigung des Lebens ganz zu schweigen. »Es ist vorauszusehen, daß die Lebenswelt, wie wir sie kennen und bewohnen, im Laufe des anhebenden Jahrtausends zusammenbrechen und unbewohnbar werden wird. Es ist vorauszusehen, daß die Kirchen der Christenheit sehr bald, vielleicht im Laufe dieses Jahrhunderts, in völlige Bedeutungslosigkeit absinken werden«, warnt Carl Amery in seiner politischen Streitschrift Global Exit. Die Kirchen und der totale Markt. »Es soll gezeigt werden, daß diese beiden Aussichten, wenn zusammengeführt, eine gewaltige Pflicht enthüllen – und eine gewaltige Chance gebären.«
Wir brauchen eine katholische Weltkirche, die sich dieser Verantwortung stellt und haben die gewaltige Pflicht, die Reformen zu fordern und durchzusetzen, die diese Kirche aus ihrer momentanen, erzwungenen und beschämenden, gänzlich unbiblischen Lethargie befreien.
Carl Amery: Global Exit. Die Kirchen und der Totale Markt. btb, München 2004. 224 Seiten, 8,50 Euro.
Hans Küng: Ist die Kirche noch zu retten? Piper, München 2011. 272 Seiten, 18,95 Euro.
Matthias Matussek: Das katholische Abenteuer. Eine Provokation. DVA, München 2011. 368 Seiten, 19,99 Euro.