»Wer den Normen entspricht, kann es sich leisten zu bezweifeln, dass es sie gibt.« Carolin Emcke über das Begehren

Von Susanne Krones (Virginia Nr. 51/Herbst 2012, S. 7) – Erwachsenwerden ist so selbstverständlich wie rätselhaft. Ohne dass der Moment zu bestimmen wäre, in dem es passiert, gleiten wir in Normen wie in Kleidungstücke. Ziehen sie uns über, weil sie bereitliegen oder weil sie uns übergestülpt werden, und bemerken den Prozess nur dann, wenn wir nicht hineinpassen. Manchmal auch dann erst spät. »Bis heute erstaunt mich das«, wundert sich Carolin Emcke, sensible Beobachterin ihres eigenen Erwachsenswerdens, in ihrem Essay Wie wir begehren. »Nicht, dass ich homosexuell geworden bin. Sondern dass ich es so spät bemerkt habe.«

Emcke, geboren 1967, studierte Philosophie in London, Frankfurt und Harvard, promovierte über »kollektive Identiäten«und arbeitet als freie Publizistin, v.a. für die Zeit. Ihr neues Buch versetzt seine Leserinnen und Leser zurück in die Zeit, in der Unterschiede plötzlich wichtig wurden. Emcke geht ihrer eigenen Erfahrung des Andersseins und ihrer Erinnerung an ihren Mitschüler Daniel nach, den unsichtbare Mechanismen früh in eine Außenseiterrolle drängten und dessen Suizid sie bis heute beschäftigt. Aus erwachsener Perspektive fragt sie sich, ob der Grund, warum sie selbst bis lange nach dem Abitur gebraucht habe, um ihr Begehren zu entdecken, derselbe war wie der, aus dem sich Daniel das Leben nahm: »Hatte die Sehnsucht schon einen Adressaten? Wusste Daniel schon, wie er lieben oder leben wollte? Wusste das irgendeiner von uns damals?«

Emcke, die als politische Journalistin seit 1998 bereist weltweit Krisengebiete, u.a. das Kosovo, Afghanistan, Pakistan, Irak und Gaza, ist häufig in muslimischen Gegenden unterwegs, wo es dieses sprachlose Suchen nach dem eigenen Sehnen, dieses Wollen ohne Begriff immer noch gibt. Ihr Buch schreibt sie auch gegen das Schweigen von damals, dem sie eine Erzählung entgegensetzen will, die die Erzählung all derer sein könnte, die heute nach Geschichten suchen, die sie leben können.

Diese Erzählung ist keine Erzählung ohne Kontext, auch wenn das gerne suggeriert wird, wenn vom Erwachsenwerden die Rede ist, »als ob es nur an uns läge, wie schnell oder langsam, glücklich oder unglücklich wir sexuell erwachen, … als ob wir werden könnten, wie wir wollten, als ob das Wollen nicht in vorgefertigten Formen daherkäme, als ob die sozialen, politischen, ästhetischen Grenzen der Welt um uns herum nicht allzu oft auch die Grenzen der eigenen Phantasie beschrieben.«

Wie jede Erzählung hat sie nicht nur einen Kontext, sondern auch Rezipienten. Solche, die sie angreifen. In Frage stellen. Andere, die sich ihr gegenüber aufgeklärt, verständnisvoll und interessiert geben und tolerieren, wo es nichts zu tolerieren gibt. Die sich ihrer Freundschaften mit Homosexuellen zwar rühmen, aber wenig verstehen, weil sie sich nicht zu fragen trauen. Emcke entlarvt den »schweren Mantel der gütigen Toleranz, die alles im Ungefähren lassen will« als Strategie, Homosexuelle als kollektive Identität zu isolieren: »So wird sich die Gruppe niemals auffächern, wie die Frauen hinter dem Schleier, in individuelle Geschichten und Erfahrungen.« Sie entlarvt damit zugleich, wie Ideologien und Lebenswelten überall auf dem Globus funktionieren, indem sie Praktiken und Überzeugungen schaffen, die dann als natürlich gegeben behauptet werden, und Grenzen konstruieren, die jedem als selbstverständlich scheinen.

Die Infragestellung dieser Selbstverständlichkeit ist das Besondere, das grundlegend Neue an Emckes Essay: Sie interessiert sich nicht dafür, wie Homosexualität entstehet, ob sie genetisch vorgegeben oder sozial konnotiert ist. Sie interessiert sich dafür, wie sich Individuen ihres Begehrens bewusst werden, wie sie es identifizieren und wie sie dann, nach und nach, eine Sprache dafür finden. Emcke beobachtet. Ihren Übersetzer Ibrahim im Gazastreifen etwa, den sie auf den ersten Blick als Homosexuellen zu erkennen glaubt, der Codes zitiert, von denen sie nicht weiß, ob er sie kennt, den sie nicht auf die Thematik anzusprechen wagt, weil er in seiner Heimat nur sicher leben kann, wenn er seine Homosexualität heimlich lebt. Mehrfach baut sie ihm thematische Brücken, erzählt ihm schließlich, dass sie selbst mit einer Frau lebt. Ibrahim ist inzwischen in ein europäisches Land geflohen, seine Familie weiß den Grund seiner Ausreise bis heute nicht. Emckes Kunstfertigkeit besteht darin, Geschichte wie die des Übersetzers Ibrahim, des Außenseiters Daniel jeweils so auf ihre eigene Geschichte zurückzuspiegeln, dass die Stufen ihres eigenen Coming of Age-Prozesses klar konturiert werden: »Wie ähnlich war meine Unwissenheit damals der von Ibrahim heute im Gazastreifen?«

Am Ende der Unwissenheit schließlich steht der Anfang der Lüge. Ihrer Identität ist sich Emcke heute gewiss und lebt offen in einer Beziehung mit einer Frau. Die Frage »Bist du verheiratet?«, in islamisch geprägten Ländern eine freundliche Geste zum Beginn eines Gesprächs, »unverfänglich, wie gezuckerter Tee« lässt keine ehrliche Antwort zu. Für Emcke, die derart lange ringen musste, um die Wahrheit über die eigene Lust zu erkennen und auszusprechen, ist dieser Zwang zur Lüge eine Zumutung. Doch es geht nicht nur um sie: Als Reporterin muss sie sich fragen, wie ihr Übersetzer, ihr Fahrer nach ihrer Abreise behandelt würden, ob ihr Männer noch erlauben würden, ihre Frauen zu interviewen, aber natürlich auch: Wie es den homosexuellen Menschen dieser Länder geht, wenn nicht einmal sie, die westliche Journalistin, über ihr Begehren spricht.

»Das ist der Grund, warum ich auf jeder Reise ein bisschen zu weit gehe, die Grenzen immer etwas weiter verschiebe«, erklärt Emcke – und tut es. Nicht zuletzt mit diesem außergewöhnlichen, sprachmächtigen Essay über das Begehren.

Carolin Emcke: Wie wir begehren. S. Fischer 2012. 254 S. € 19,99.

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