Zwei Generationen, zwei Wirklichkeiten

Von Susanne Krones (Virginia 54/Frühjahr 2014, S. 14) – Manchmal gibt es solche Momente im Alltag: Man versteht plötzlich, wovor man lange wie vor einem Rätsel stand, man ist zum ersten Mal ehrlich zu sich selbst in einer Frage, die man für längst beantwortet hielt. Meistens passiert das, wenn man den Standpunkt wechselt und zulässt, dass eine andere Wirklichkeit die eigene kreuzt. Gespräche zwischen Enkeln und Großeltern sind ein Möglichkeitsraum für solche Momente.

Chronik der Zukunft. Swetlana Alexijewitschs »Gespräche mit Lebenden und Toten«

Von Susanne Krones (EMOTION 8/2013, online) –  Als am 26. April 1986 der Himmel über Tschernobyl brannte, verloren die direkt betroffenen Menschen keine Stadt, sondern ein ganzes Leben.

Swetlana Alexijewitsch, 2013 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet, hat mit Überlebenden von Tschernobyl gesprochen. Aus ihren Recherchen entstanden berührende literarische Monologe von Liebe, Angst, Verlust und Heimat und vom Leben mit einem Tod, der unsichtbar und unhörbar auch heute noch gegenwärtig ist. Aus einer Auswahl aus diesen Monologen hat Frank Werner ein Hörspiel für vier Einzelstimmen komponiert, das einem ergreifenden Requiem der Klage und Anklage gleicht. Leise Geräusche zwischen den Monologen lassen fühlen, was sich nicht in Worte fassen lässt: brummende Hummeln, die Steigerung ihres Summens von Idylle zu Gefahr. »Erdbeeren waren reif, die Bienenstöcke waren voller Honig. So war die Lage.«

Mut zum Verlieren. Joyce Carol Oates‘ »Über Boxen«

Von Susanne Krones (EMOTION 8/2013, online) –  Auch wer mit Boxen bisher rein gar nichts anfangen konnte, wird sich in diesen brillanten Essay verlieben, wenn erst eine erste irritierende Frage geklärt ist: Wie um alles in der Welt kann eine Schriftstellerin von Weltrang an einem so brutalen Sport Gefallen finden?

»Eine falsche Regung, und der Schmerz kommt zurück«. Claudia Gallays »Die Brandungswelle«

Von Susanne Krones (EMOTION 8/2013, online) –  Romane, die so sinnlich sind, sind selten: Claudie Gallays Roman »Die Brandungswelle« ist man als Leserin von der ersten Seite an ausgeliefert – seinen melancholischen wie seinen stürmischen Momenten.

Nur wenige wohnen hier am Ende der Welt und Fremde werden von Einheimischen misstrauisch beäugt. Wer hier lebt, lässt sich darauf ein, dass das Leben von der Natur bestimmt wird, von Wind und Wetter und den Gezeiten. Die Ich-Erzählerin, die sich nach dem Tod ihres Geliebten in La Hague vor sich selbst versteckt, ergibt sich dem Ort, dem ihre Sinne ausgeliefert sind. Umgeben von einem Wind, der das Begehren bloß legt, läuft sie allein auf steilen Wege, die man nicht zu zweit gehen könnte. Ihre Lippen, abwechselnd nass und brennend heiß, vergessen, sich nach dem zu sehen, was sie verloren haben.

Seiltänzerin ohne Netz

Von Susanne Krones (Virginia 52/Frühjahr 2013, S. 6f.) – Wer Mascha Kaléko im Ohr hat, hört mindestens zwei Stimmen gleichzeitig. So melancholisch manche ihrer Verse sind, so frech sind andere. Niemand hat ihre Janusköpfigkeit treffender ins Wort genommen als sie selbst: »Zwei Seelen wohnen, ach, in mir zur Miete«. Und das wäre, so Kaléko, auch gar nicht anders denkbar: »Denn, was einst war, das stimmt uns meistens lyrisch, / Doch das, was ist, zum großen Teil satirisch«.

Mut zur Distanz und Mut zur Nähe. Keto von Waberers Roman »Mingus«

Von Susanne Krones (Münchner Feuilleton Nr. 12, 13.10.2012) –  Bevor Keto von Waberer, die 1942 in Augsburg als Tochter einer deutschen Mutter und eines bolivianischen Architekten geboren, wurde, sich im nur eine Stunde entfernten München niederließ, führte ihr Weg sie einmal um die Welt. Sie wuchs in einem Dorf in Tirol auf,  studierte Kunst und Architektur in München und Mexiko City, heiratete dort und lebte mehrere Jahre mit ihrer vierköpfigen Familie in Mexiko und den USA.

»Wer den Normen entspricht, kann es sich leisten zu bezweifeln, dass es sie gibt.« Carolin Emcke über das Begehren

Von Susanne Krones (Virginia Nr. 51/Herbst 2012, S. 7) – Erwachsenwerden ist so selbstverständlich wie rätselhaft. Ohne dass der Moment zu bestimmen wäre, in dem es passiert, gleiten wir in Normen wie in Kleidungstücke. Ziehen sie uns über, weil sie bereitliegen oder weil sie uns übergestülpt werden, und bemerken den Prozess nur dann, wenn wir nicht hineinpassen. Manchmal auch dann erst spät. »Bis heute erstaunt mich das«, wundert sich Carolin Emcke, sensible Beobachterin ihres eigenen Erwachsenswerdens, in ihrem Essay Wie wir begehren. »Nicht, dass ich homosexuell geworden bin. Sondern dass ich es so spät bemerkt habe.«

Karl Ove Knausgård: Lieben

Von Susanne Krones (in: Münchner Feuilleton 10/2012) Karl Ove Knausgårds Roman »Lieben« ist ein Ausnahmebuch. Eines, das man sich anzieht wie ein anderes Leben. Wie Kleider, die bereitliegen. In das man eintaucht wie in einen Urlaub vom eigenen Ich. Karl Ove liebt. Seine Frau, seine drei Kinder, seinen Schriftstellerberuf, die Literatur. Und doch hadert er mit seiner Vaterrolle und den veränderten Geschlechterrollen. »Alles, was ich tat, wurde von der Sehnsucht nach etwas anderem vollständig ausgehöhlt.« Karl Ove Knausgård, 1968 geboren und wichtigster norwegischer Autor seiner Generation, wurde für seine Romane »Sterben« und »Lieben« in Norwegen enthusiastisch gefeiert und mit Preisen überhäuft. Sein autobiographisches Projekt, dem weitere vier Romane folgen, ist eine Sensation. Ein gewaltiges Projekt über die Unendlichkeit des Alltags und den anrührenden Versuch eines Menschen, sein Leben zu seinem eigenen zu machen.

Ist die römisch-katholische Kirche noch zu retten? Nicht, wenn sie die falschen Freunde hat

Von Susanne Krones (»Der Reformbedarf der katholischen Kirche«, in: Neue Gesellschaft Frankfurter Hefte 7-8/2012, S. 107) – Es schien sich etwas zu bewegen in der römisch-katholischen Kirche, seit die öffentlich gewordenen Skandale um sexuellen Missbrauch innerhalb kirchlicher Einrichtungen die Menschen erschüttert und die Medien wieder stärker auf die unterschiedlichen Dimensionen dieser Krise aufmerksam gemacht haben, die vor allem eine Krise der Kirchenführung ist. Jahrzehntelang wurde sexualisierte Gewalt vertuscht.

Eine Fliege kommt durch einen halben Wald. Herta Müller bei Hörbuch Hamburg

Von Susanne Krones (EMOTION 4/2012, online) – Sie wartet auf ihn. So lange schon, dass ein Wiedersehen nichts wäre als ein schreckliches Glück. Ein brillanter Monolog der Nobelpreisträgerin in einer beeindruckenden Hörbuch-Fassung, interpretiert von Angela Winkler.

Eine Frau wartet. Wartet jahrelang vergeblich auf einen Mann, der nicht zurückzukehren scheint aus dem Lager oder aus dem Krieg. Wann hört ein solches Warten auf? Darf der Gedanke überhaupt gedacht werden? Der einzige Satz, der ihr Halt gibt, ist selbst fragil: »Man kann auch leben, ohne sich zu melden.« Man kann. Aber wahrscheinlich ist es nicht, dass er zurückkommt. Und selbst wenn – was wäre dann?

Miranda July. Zehn Wahrheiten in fünfzehn Erzählungen

Von Susanne Krones (EMOTION 4/2012, online) – Miranda July ist eine, die alles kann. Und alles macht: Kunst, Performance, Film und Literatur. Eine, die alles weiß: Über uns. Ihre Geschichten erzählen von Nähe und Einsamkeit, Individualität und Obsessionen, vom Zauber des Alltags – und von uns selbst.

Miranda July ist eine, die alles kann: 1979 in den USA geboren, macht die Amerikanerin heute Kunst, Performance, Film, Literatur. Auf jeder ihrer Bühnen agiert sie stilsicher und kühn. Ihr Prosaband »Zehn Wahrheiten«, von Clara Drechsler und Harald Hellmann ins Deutsche übersetzt, versammelt fünfzehn Erzählungen, die Miranda Julys literarisches Universum konstituieren.

»Es ist komisch, wenn ich etwas ganz für mich allein habe«. Emma Donoghues Welterfolg »RAUM«

Von Susanne Krones (EMOTION 4/2012, online) – Was bedeutet es, Kinder aufzuziehen? Eine hinreißende Mutter-Kind-Geschichte, erzählt aus der Sicht eines Fünfjährigen, dem es an nichts fehlt außer an Freiheit. Er hat den Raum, in dem seine Mutter ihn geboren hat, noch nie verlassen.

Was Emma Donoghue in ihrem Welterfolg »Raum« unternimmt, ist außergewöhnlich: Der Roman erzählt die schockierende Geschichte eines Fünfjährigen, dessen Mutter einige Jahre vor seiner Geburt gekidnappt wurde. Er selbst ist in Gefangenschaft geboren worden und hat den Raum noch nie verlassen. Eine Geschichte, die sprachlos machen könnte. Doch Emma Donaghue erzählt sie auf hinreißende Weise als die Geschichte einer Mutter-Kind-Beziehung, deren gegenseitige Liebe den beiden die Kraft zum Überleben gibt.

Zum Tod der Schriftstellerin Christa Wolf: Erinnerung an einen Münchner Störfall

Von Susanne Krones (Münchner Feuilleton Nr. 5, Februar 2012, S. 20) – Ohne Zweifel: Christa Wolf zählte zu den prägendsten Protagonistinnen ihrer Epoche. Subjektive Authentizität und engagierte Zeitgenossenschaft verliehen ihrem Werk internationale Bedeutung. Am 1. Dezember 2011 starb Christa Wolf in Berlin. Ihre Karriere ist auch mit der Stadt München eng verknüpft.

Susanne Krones über Christa Wolf

Wolf polarisierte. Wie keine andere Schriftstellerin ihrer Generation wurde sie verehrt und mit oft irrationaler Härte angegriffen. Auch ihr Tod bewegte die Menschen in ganz Deutschland. An die offizielle Gedenkfeier des Suhrkamp Verlags und der Akademie der Künste in Berlin schlossen sich Trauerfeiern in zahlreichen deutschen Städten an. Im Münchner Literaturhaus trafen sich zum »Nach-Denken über Christa W.« im Januar Schriftsteller Christoph Hein und Literaturkritikerin Frauke Meyer-Gosau, um an die Autorin zu erinnern.

»Wie ich keine jüdische Mutter geworden bin«. Lena Goreliks »Lieber Mischa …«

Von Susanne Krones (Virginia 50/Frühjahr 2012, S. 5) – »Lieber Mischa … es tut mir so leid, dass ich Dir das nicht ersparen konnte: Du bist ein Jude.« Der Satz, mit dem Lena Gorelik ihre Folge von Briefen an ihren neugeborenen Sohn eröffnet, ist Programm: Nach ihrem Debüt »Meine weißen Nächte«, ihrem zweiten Roman »Hochzeit in Jerusalem« und der Reiseerzählung »Verliebt in St. Petersburg« setzt sie sich ein weiteres Mal mit ihren jüdisch-russischen Wurzeln auseinander. Sie führt in ihren Kolumnen mit feiner Ironie und doppelbödigem Humor stilsicher an die Grenzen ihrer Identitäten: »Exotisch zu sein kann anstrengend sein. Jüdisch und russisch gleichzeitig zu sein – das Opfer aus dem Zweiten und der Feind aus dem Kalten Krieg in einem – ist, wie doppelt bestraft zu sein. (Oder doppelt gesegnet.)«

Der Zwang zur Freiheit. Freundschaft und Liebe im digitalen Zeitalter

Von Susanne Krones (Neue Gesellschaft Frankfurter Hefte 10/2011, S. 68ff.) – Eine Revolution hat sich ereignet, unbemerkt, doch folgenschwerer als viele vor ihr. Das Internet hat nicht nur Wirtschaft, Medien und Meinungsbildung verändert, sondern auch die Art und Weise, wie wir lieben. Damit gibt das Netz einem Wandel Ausdruck, der sich längst vollzogen hat: Die freie Gesellschaft ist zur Suchmaschine geworden, die uns unaufhörlich die Palette ihrer Möglichkeiten anbietet und zu Entscheidungen zwingt. Das gilt nicht nur für Waren, Informationen und Meinungen, sondern auch für Freundschaft und Liebe.

Schade ums Papier: Matthias Matusseks Streitschrift »Das katholische Abenteuer«

Von Susanne Krones (Münchner Feuilleton 2/November 2011) – »Ich weiß, das kann peinlich werden«, so Matthias Matussek am Beginn seiner Streitschrift »Das katholische Abenteuer« – einer von wenigen Sätzen, denen man zustimmen kann. Sein unausgegorenes Sammelsurium hat mit einem Plädoyer zum Wohl des Katholizismus im 21. Jahrhundert nichts zu tun. »Heiliger Vater’ – was ist das allein für eine wunderbare Anrede in einer vaterlosen Gesellschaft, wie altmodisch würdevoll auf diesem ordinären Rummelplatz, auf dem wir heute unser Leben einrichten.« Zu einem ordinären Rummelplatz machen die Welt auch Bücher wie dieses: schnell gestrickt, larmoyant und ziemlich sexistisch. »Warum Frauen in Priesterkleidern ein Zeichen dafür sind, dass man in religiösen Fragen weiter ist, mag ein Rätsel der Bekleidungsindustrie bleiben.« Allein diese Aussage entlarvt, dass es Matussek nicht um Auseinandersetzung geht, sondern um plumpen Populismus. Schade ums Papier – auf dass man besser Hans Küngs fundiert recherchiertes »Ist die Kirche noch zu retten?« lese!

Zwischen Salinger und Hegemann. Jugendrevolte im Roman

Von Susanne Krones (Neue Gesellschaft Frankfurter Hefte 4/2010, S. 60ff.) – »Weißt du, ich will mich einfach nur bei mir selbst dafür entschuldigen, dass gerade all die meinem späteren Ich gegebenen Versprechungen von irgendeinem tauben Wind in Stücke gerissen werden. (…) Ich glaube ehrlich gesagt, ich will mir damit irgendetwas beweisen.« So formuliert Mifti, Heldin von Helene Hegemanns umstrittenem Debütroman Axolotl Roadkill die Motivation, ihre Geschichte aufzuschreiben: als eine Rechtfertigung vor ihrem zukünftigen Ich, die alle Kompromisse entschuldigen soll, die das Erwachsenwerden Mifti abringt. Hegemanns Debüt dominierte die Feuilletons wie kein anderer Roman der letzten Monate: Seine Autorin wurde gefeiert als Nachfolgerin Salingers und anderer weltliterarischer Wortführer der literarischen Jugendrevolte und verdammt als Plagiatorin.

Wenn Literatur nicht beim Wort genommen wird: Christa Wolfs »Leibhaftig« und die Literaturkritik

Am 26. Februar feierten in Berlin-Pankow fast tausend Menschen die Premiere von Leibhaftig, der neuen Erzählung Christa Wolfs; am Vortag war das Buch erschienen. Bis zum 28. September liefen Rezensionen durch die Druckmaschinen in alle deutschen Feuilletons. Dann Stille. Alles war wie immer in der deutschen Literaturkritik, die sich entschieden hat, nur mehr den Verkauf von Büchern anzukündigen, die Verkaufszahlen in die eine oder andere Richtung zu beeinflussen, statt ihre Rezeption zu begleiten.

Formen des Erinnerns. Das Brecht-Haus in Augsburg

Schreiben heißt auch: Spuren hinterlassen. »An die Nachgeborenen«, so hat Bertolt Brecht es formuliert. Brecht, »öfter die Länder als die Schuhe wechselnd«, hat seine Spuren vielerorts hinterlassen: Die Tschechoslowakei, Österreich, Frankreich, die Schweiz, Dänemark, Schweden, Finnland, die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten von Amerika waren Stationen seines Exils. Wahrgenommen wird Brecht als Berliner Autor, wo er sich mit dem Theater am Schiffbauerdamm, dem heutigen Berliner Ensemble, selbst ein lebendiges Denkmal gesetzt hat. Wie den Spuren eines solchen Lebens folgen? Fangt vorne an.

Das schwächste Wort der Sprache: Don De Lillos Roman »Körperzeit« und der Vogel auf seiner Zunge

Wer Don DeLillos »Körperzeit« liest, stellt sich nicht nur ungewöhnlicher und ausdrucksstarker Prosa, sondern gleichzeitig dem Werk seiner Heldin, der Performance-Künstlerin Lauren Hartke, die ihr eigenes Leben und Leiden mit enormer Selbstdisziplin, die in einigen Passagen an Selbstzerstörung erinnert, inszeniert.

Ein Roman wie ein Kaleidoskop: Martin Mosebach, »Eine lange Nacht«

Manche Pläne scheitern, wenn man sie aussspricht. Ludwig Drais, der Held in Martin Mosebachs Roman »Eine lange Nacht« hatte am Bankschalter »so selbstgewiß sein erstes Referendarsgehalt angekündigt, daß die Dämonen aufwachten und das Examen durchkreuzten«. Planlos und irritiert findet er sich nach seinem erfolglosen Jura-Studium beruflich und privat in Lebensumständen wieder, die er so nicht geplant, nicht einmal angedacht hat: Ludwig versucht sich zuerst als Kunsthändler an einem unverkäuflich misslungenen Liebermann und steigt kurze Zeit später in die Geschäftsführung von »Nephew & Nephew« auf, einer Firma, die Billigtextilien aus Pakistan und kanadische Holzfällerhemden vertreibt.