4 zu 46 (22.11.2008)

Das jüngste Phänomen, das insbesondere den italienischen und deutschen Buchmarkt zu Beginn des 21. Jahrhunderts prägt, sind Medienkooperationen wie die »SZ-Bibliothek«, die »Bild-Bestseller-Bibliothek« und die »Brigitte-Edition«. Gerade am Beispiel der SZ-Bibliothek und ihrer Nachahmer zeigt sich: Medienkooperationen sind nicht nur ökonomisch erfolgreich, sie entwickeln auch in kultureller Hinsicht eine ungeahnte Breitenwirkung und haben jedes der geschichtlich variablen Konzepte ›Kanon‹, ›Leser‹, ›Bildung‹ und ›Text‹ auf ihre Weise neu akzentuiert: Die Bibliotheken, die – je nachdem – 50 bedeutende Romane des 20 Jahrhunderts, die Klassiker der Comic- oder der Managementliteratur verlegen, tragen entscheidend zur ›Kanonbildung‹ in ihrem Segment bei – einerseits, weil die Auswahl durch von einem breiten Publikum anerkannte Experten des jeweiligen Segments fundiert wird, andererseits, weil die Ausgaben der Bibliotheken durch ihre Ausstattung (hochwertige Hardcover in ausgezeichneter Gestaltung) und ihren Preis (meist um 4,95 EURO) außerhalb jeder Konkurrenz stehen. An ihren Auflagenhöhen lässt sich ablesen, dass diese Ausgaben schon jetzt die privaten Bibliotheken und Bücherschränke gegenüber den jeweiligen Ausgaben der Originalverlage dominieren.

 

Gisa Funk wunderte sich in der taz vom 20.01.2005 zu Recht über die Auswahl der Titel für die »erste Staffel« der SZ-Bibliothek, die bei insgesamt fünfzig Büchern gerade einmal vier Autorinnen ins Rennen schickte: »Was einer Quote von acht Prozent entspricht. Oder anders gesagt: Frauen erklimmen in Deutschland häufiger eine politische Chefposition (immerhin noch eine Quote von zehn Prozent), als dass sie es in die erlauchte Riege der SZ-Klassiker schaffen.«

46 zu 4, das ist in der Tat ein absurdes Verhältnis, denkt man an Ingeborg Bachmann, Anna Seghers, Christa Wolf, Marie Luise Kaschnitz. An Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek. Gar an Virginia Woolf, Sylvia Plath oder Simone de Beauvoir – drei Autorinnen von Weltrang, die die Tradition der Moderne maßgeblich beeinflusst haben. Funk hat recht, wenn sie konstatiert, dass kaum denkbar ist, dass »ein dermaßen unausgewogenes Geschlechterverhältnis umgekehrt lediglich mit Schwierigkeiten bei der Lizenzvergabe zu tun hat.«

Verstehe wer will, welche Erwartungshaltung die Herausgeber ihrem Publikum mit dieser Auswahl unterstellen, die Literatur des 20. Jahrhunderts jedenfalls hätte ein Gleichgewicht großzügig erlaubt. Denn auf welchen dieser großartigen Romane würden Sie verzichten können?

1. Margaret Atwood: Der Report der Magd / The Handmaid’s Tail (1985)
2. Ingeborg Bachmann: Malina (1971)
3. Djuna Barnes: Nachtgewächs / Nightwood (1936)
4. Simone de Beauvoir: Die Mandarins von Paris / Les mandarins (1954)
5. Pearl S. Buck: Die gute Erde / The Good Earth (1931)
6. Carson McCullers: Das Herz ist ein einsamer Jäger / The Heart is a Lonely Hunter (1940)
7. Assja Djebar: Fantasia / Fantasia (1985)
8. Oriana Fallaci: Ein Mann / Un uomo (1980)
9. Natalia Ginzburg: Familienlexikon / Lessico famigliare (1965)
10. Nadine Gordimer: Burgers Tochter / Burger’s Daughter (1979)
11. Patricia Highsmith: Der talentierte Mr. Ripley / The Talented Mr. Ripley (1955)
12. Irmgard Keun: Das kunstseidene Mädchen (1932)
13. Harper Lee: Wer die Nachtigall stört / To Kill a Mocking Bird (1960)
14. Doris Lessing: Das goldene Notizbuch / The Golden Notebook (1962)
15. Anne Michaels: Fluchtstücke / Fugitive Pieces (1996)
16. Margriet de Moor: Der Virtuose / De virtuoos (1993)
17. Irmtraud Morgner: Leben und Abenteuer der Trobadora Beatriz (1974)
18. Toni Morrison: Menschenkind / Beloved (1987)
19. Iris Murdoch: Der Schwarze Prinz / The black prince (1973)
20. Joyce Carol Oates: Im Dickicht der Kindheit / Childwold (1976)
21. Sylvia Plath: Die Glasglocke / The Bell Jar (1963)
22. Katherine Anne Porter: Das Narrenschiff / Ship of Fools (1962)
23. Brigitte Reimann: Franziska Linkerhand (1974)
24. Arundhati Roy: Der Gott der kleinen Dinge / The Lord of Small Things (1997)
25. Francoise Sagan: Bonjour tristesse / Bonjour tristesse (1954)
26. Anna Seghers: Das siebte Kreuz (1942)
27. Marguerite Yourcenar: Ich zähmte die Wölfin / Mémoires d’Hadrian (1951)
28. Alice Walker: Die Farbe Lila / The Colour Purple (1982)
29. Christa Wolf: Kassandra (1983)
30. Virginia Woolf: Mrs. Dalloway / Mrs. Dalloway (1925)

Vier unsterbliche Titel aus der Kinder- und Jugendliteratur nicht zu vergessen:

31. Edith Nesbit: Die Schatzsucher / The Story of the Treasure Seekers (1899)
32. Selma Lagerlöf: Nils Holgerssohn / Nils Holgerssohns underbara resa genom Sverige (1906)
33. Astrid Lindgren: Pippi Langstrumpf / Pippi Langstrump (1945-48)
34. Joanne K. Rowling: Harry Potter und der Stein der Weisen / Harry Potter and the Philosopher’s Stone (1997)

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Ein Kommentar zu “4 zu 46 (22.11.2008)”

  1. Geschrieben von effi briest am 05. Januar 2009 um 00:34 Uhr

    46 zu 4, das ist nicht nur absurd, sondern ärgerlich!
    dass es mir vorher nicht aufgefallen ist, obwohl ich diese staffel der sz-bibliothek sogar komplett im regal habe, hat mich nachdenklich gemacht. ich fürchte, das liegt gar nicht an dieser form des kanons, die ja zum verkaufen gemacht ist und entsprechend populär und windschnittig sein muss. bereits der weit größer angelegte, seriösere kanon, den die literaturwissenschaft gebildet hat, enthält zu gefühlten 80 bis 90 prozent werke von männlichen autoren, auch im 20. jahrhundert verschiebt sich das ungleichgewicht nur minimal.
    eben habe ich im beitrag zu den „zehn seiten“ (vom 24.12.2008) die website „lesbarkeit der weltliteratur“ (http://www.literatursuche.de/lwl/) empfohlen, die ich nach wie vor beeindruckend und einen klick wert finde. aber auch hier bin ich beim zweiten hinsehen erschrocken, wie weltliteratur als etwas komplett von männern gemachtes inszeniert wird.
    natürlich, was die jahrhunderte betrifft, in denen frauen durch die fehlende gleichberechtigung kaum literarische werke produzieren konnten bzw. noch keinen zugang zu universitäten hatten etc., gibt es natürlich unterschiede. aber dass diese unterschiede nicht so gravierend sind, wie der aktuelle kanon und glauben machen will, merkt man ja, wenn man sich gezielt an eine recherche zu schriftstellerinnen und ihren werken macht.
    warum ändert sich so wenig, obwohl in literaturwissenschaft und verlagswesen doch eigentlich viele frauen tätig sind?