»Wissenschaft muss immer der Wahrheitsfindung und dem Denken verpflichtet bleiben«. Gesine Schwan im Interview

Von Susanne Krones und Christian Ernst – Gesine Schwan, ehemals Präsidentin der Europa-Universität Viadrina und zum zweiten Mal Kandidatin um das Amt der Bundespräsidentin, hat Kritik am gegenwärtigen Diskurs über Bildung und Wissenschaft geübt. Susanne Krones und Christian Ernst sprachen mit ihr über ihre Wünsche für die deutschen Hochschulen und ihre Befürchtungen gegenüber einer zunehmenden Ökonomisierung der Wissenschaft.

Was macht die Europa-Universität Viadrina so besonders?

 

Unsere Universität hat vier Gründungsaufträge: Sie soll die Region entwickeln, eine besondere Universität sein, sie soll das deutsch-polnische Verhältnis pflegen und zu einem Bewusstsein beitragen, dass Europa jenseits der Oder weitergeht. Besonders sticht die Internationalität der Studierenden ins Auge. Von unseren 4000 Studierenden sind 40% nicht deutscher Herkunft, wobei von vornherein vorgesehen ist, dass ein Drittel der Studierenden Polen und Polinnen sind. Das ist einzigartig in Deutschland und führt zu einem besonderen Klima und Duktus an der Universität.

 

Finden Sie die Forderung nach Internationalisierung der deutschen Hochschulen berechtigt und immer sinnvoll?

 

Verschiedenes gefällt mir an der Diskussion darüber nicht. Sie wird oft zu sehr aus ökonomischer Perspektive heraus geführt. Zum Beispiel wünschen wir uns die schnellsten und klügsten Köpfe aus dem Ausland zur Behauptung unserer nationalen Wirtschaftsposition, was angesichts der Internationalisierung der Wirtschaft schmalspurig gedacht ist. Wir müssen aufpassen, dass wir den sogenannten Brain-Drain nicht verstärken, da er die Länder Mittel- und Osteuropas nachhaltig schwächt.

Außerdem wird nicht genau diskutiert, wozu wir eigentlich Internationalisierung haben wollen. Geht es uns bloß um die Internationalisierung der Wirtschaft und bessere Chancen der Absolventen auf dem Arbeitsmarkt oder auch um einen Austausch der Kulturen und Wissenschaftstraditionen? Diese Ziele müssen wir genau sortieren, um wirkungsvolle Maßnahmen zu entwickeln. Das geht nicht mit ein paar Sätzen Englisch und unter dem ständigen Wettbewerbsdruck, der schnellste sein zu müssen.

 

Damit sind wir schon mittendrin in der Bildungsdebatte. Wir würden Sie aber gerne zuerst nach Ihrem persönlichen Begriff von Bildung fragen.

 

Bildung ist für mich ein dynamischer Zustand der Persönlichkeit. Eine gebildete Persönlichkeit ist eine, die in großer Offenheit und Selbstreflexion eine Vielzahl von unterschiedlichen Erfahrungen durcharbeitet, und zwar so, dass diese nicht unverbunden nebeneinander stehen bleiben, sondern miteinander in Verbindung treten. Dadurch kommt die Persönlichkeit zu einer inneren Kohärenz. Zusammenhänge herzustellen zwischen verschiedenen Theorien einerseits und Theorie und Praxis andererseits bedeutet einen ständigen Umgang mit Konflikten. In Kunst und Literatur sind solche Erfahrungen in besonderem Maße verarbeitet worden. Deshalb gehört die Auseinandersetzung mit ihren Werken zum Bildungsprozess dazu. Dieser darf nicht abstrakt bleiben, denn Bildung, die abgekoppelt ist vom Gemeinwesen, ist unzureichend. In diesem Sinne sind freie, kritische Urteilsfähigkeit, Verständigung und politische Verantwortung untrennbar mit ihr verbunden.

 

Ist eine solche Bildung an der Universität angesichts der Spezialisierung der Wissenschaften überhaupt noch möglich?

 

Das ist eine Frage, die mich sehr umtreibt. Ich möchte in Frankfurt/Oder eine Ringvorlesung einführen, die für Erst- und Zweitsemester aller Fakultäten obligatorisch ist und in wichtige, große Texte einführt, die grundlegend für die verschiedenen Fachrichtungen sind und europäische und außereuropäische Denktraditionen markieren. Ich denke an Racine und Corneille, den Dekalog aus dem vierten Buch Mose will ich unbedingt dabei haben, die Bhagavadgita möchte ich mit einem Text vertreten sehen und auch etwas zur kopernikanischen Wende. Die Vorlesungen sollen von kleinen Arbeitsgruppen aufbereitet werden, in denen interdisziplinär die allen bekannten Texte diskutiert werden. Das könnte ein erster Schritt sein.

 

Sie als Präsidentin scheinen große Gestaltungsmöglichkeiten zu haben. Ist das eine Sonderstellung, die die Viadrina mit sich bringt, oder gilt das für alle deutschen Universitäten?

 

Eine kleine Universität ist sicher eine gute Voraussetzung dafür. An Massenuniversitäten ist es schwieriger, aber nicht unmöglich. Als Dekanin an einem sehr großen Fachbereich der FU habe ich aber positive Erfahrungen gemacht. Man kann durchaus einen anderen Ton Einführung gemacht. Man kann durchaus einen anderen Ton einführen, eine Atmosphäre des Vertrauens schaffen, indem man jeden Trick unterlässt, versucht gerecht zu sein, das Selbstwertgefühl der Beteiligten achtet und sich der Konfrontation der Ideen stellt. Eine Universität lässt sich nicht über Befehle leiten. Die ganze universitätspolitische Diskussion ist mir in diesem Sinne viel zu ökonomistisch, technizistisch und hierarchisch orientiert.

 

Wie sehen Sie in diesem Zusammenhang das Hochschulrahmengesetz?

 

Frau Bulmahn will vorrangig Leistung und Internationalisierung fördern, und jungen Leuten mehr Chancen an der Universität geben. Ob ihre Maßnahmen so greifen, wie sie sich das wünscht, wage ich zu bezweifeln. Ein großes Problem dieser Maßnahmen liegt darin, dass sie stets kostenneutral sein müssen. Dabei sind die Universitäten schon seit den siebziger Jahren strukturell massiv unterfinanziert. Man muss da immer auf eine Zahl verweisen: Die Zahl der Studierenden hat sich vervierfacht, die der Lehrenden ist nur um sechs bis sieben Prozent gestiegen. Diese Dysproportion ist ja schreiend. Weil die finanziellen Voraussetzungen so schlecht sind, wird vieles von dem, was die Bundesbildungsministerin will, torpediert.

 

Welche Maßnahmen sind es in Ihren Augen, die torpediert werden?

 

Mit der zwölfjährigen Ausbildungszeit des wissenschaftlichen Nachwuchses will Frau Bulmahn verhindern, dass sich gute Nachwuchswissenschaftler von einem Zeitvertrag zum nächsten hangeln. Doch ohne ausreichende Stellen geht der Schuss nach hinten los, das ist ja manchmal mit gewerkschaftlicher Politik auch so.

Genauso verhält es sich mit der Junior-Professur. Die Verpflichtung zu achtstündiger Lehre, zum Einwerben von Drittmitteln und zu regelmäßiger Publikation stellt in der gegenwärtigen Konzeption eine zu große Belastung für frisch Promovierte dar. Zumindest die Lehrbelastung muss drastisch gesenkt werden. Bei sinnvoller Verringerung der Pflichten könnte die Juniorprofessur ein attraktives Angebot zum unabhängigen Forschen mit eigener Ausstattung sein.

Gegenüber der leistungsbezogenen Bezahlung von Professoren bin ich sehr skeptisch. Gute Lehre und universitäres Engagement sind nicht mit Geld aufzuwiegen. Ich schlage stattdessen Forschungsfreisemester vor, die es den Professoren ermöglichen, sich nach besonderen Lehr- und Verwaltungstätigkeiten den eigenen Forschungsvorhaben intensiv zu widmen.

 

Wie kommt es zu derart kurzsichtigen Maßnahmen?

 

Ich finde, dass in der Diskussion um die Hochschulreform insgesamt viel zu sehr ökonomische Dimensionen und technische Management-Kategorien eine Rolle spielen. Das geht an dem, was ich mit Universität und Forschung verbinde – am Geist – völlig vorbei. Neulich bin ich als Katholikin gebeten worden, im Forum »Hochschule und Kirche« der Bischofskonferenz einen Vortrag zur Frage »Braucht Wissenschaft Religion?« zu halten. Da werde ich sinngemäß sagen: Ja, Wissenschaft brauche Religion zu ihrer Befreiung. Mein Kerngedanke ist, dass die Wissenschaft im Moment nicht wirklich frei, sondern vielen außerwissenschaftlichen – ökonomischen und politischen – Zwängen, man könnte fast sagen ›Verwertungsinteressen‹ unterworfen ist. Ich selber wurde ja von den 68ern als Feind der Linken betrachtet, als sogenannte »rechte Sozialdemokratin«, weil ich keine Marxistin war. Doch wenn ich sehe, wie heute die Ökonomisierung der Wissenschaft geschluckt wird – da komme ich mir fast wie eine Alt-68erin vor.

Die heute geplanten Maßnahmen entsprechen nicht dem freien Geist der Wissenschaft. Die Themen kommen von außen, von den Finanzquellen hängt es ab, welche Projekte finanziert werden, ja selbst die akademische Anerkennung hängt von der Einwerbung von Drittmitteln ab – wenn man nicht schon Luhmann oder Habermas ist, dann ist die Wahrheitsfrage völlig unwichtig.

Ich möchte, dass die Wahrheitsfrage ihr Gewicht zurückgewinnt, und ich glaube auch, dass eine wirkliche geistige Auseinandersetzung, in der es um Wahrheit geht, langfristig essentiell ist für eine freiheitliche Gesellschaft, die nie weiß, welchen Herausforderungen sie in 20 Jahren ausgesetzt ist. Andernfalls werden wir nicht das geistige Rüstzeug haben, um mit solchen Problemen zurechtzukommen. Deshalb versuche ich, eine Brücke zur Religion zu schlagen: zur Religion, die eine Befreiung der Wissenschaft für ihre ursprüngliche Aufgabe der Bindung an Wahrheit bewirken kann. Die Hauptfrage ist: Wozu sollen Universitäten da sein? Die eigentlichen Grundfragen – was soll das Ganze, an welchen Werten soll es sich orientieren – die werden nicht mehr gestellt. Dieter Grimm hat das in Luhmannschen Kategorien ausgesprochen: Wenn ein Subsystem das andere völlig absorbiert, das kann nicht gut gehen. Wissenschaft muss immer der Wahrheitsfindung und dem Denken verpflichtet bleiben. Diese beiden Kategorien möchte ich zurückholen. Erst dann kann die Wissenschaft zur Lösung aktueller und zukünftiger Probleme beitragen.

 

 

Erstmals erschienen als »›Wissenschaft muss immer der Wahrheitsfindung und dem Denken verpflichtet bleiben‹. Gesine Schwan im Interview«, in: FORUM 1/2002, S. 4f. Zus. mit Christian Ernst

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