Mut zur Distanz und Mut zur Nähe. Keto von Waberers Roman »Mingus«

Von Susanne Krones (Münchner Feuilleton Nr. 12, 13.10.2012) –  Bevor Keto von Waberer, die 1942 in Augsburg als Tochter einer deutschen Mutter und eines bolivianischen Architekten geboren, wurde, sich im nur eine Stunde entfernten München niederließ, führte ihr Weg sie einmal um die Welt. Sie wuchs in einem Dorf in Tirol auf,  studierte Kunst und Architektur in München und Mexiko City, heiratete dort und lebte mehrere Jahre mit ihrer vierköpfigen Familie in Mexiko und den USA.

Ihr dichtes Leben merkt man ihrer Prosa an, was nicht daran liegt, dass ihre Romane und Erzählungen sich in Teilen vor autobiographischen Kulissen entwickeln. Ihre Erzählungen in Der Schattenfreund (1988), Fischwinter (1991) und Das Weiß im Auge des Feindes (1999) und ihre Romane Blaue Wasser für eine Schlacht (1987) und Schwester (2002) wurden vielfach preisgekrönt, 1988 etwa mit dem Schwabinger Kunstpreis, 1996 mit dem Ernst-Hoferichter-Preis. Die wechselnden Perspektiven aus Nähe und Distanz, die etwa Seltsame Vögel fliegen vorbei (2011) auszeichnen, sind es, die virtuose Beschreibungen in der Rekonstruktion von Kindheit und Familiengeschichte erlauben. Sie zeichnen Waberers Werk aus und gelingen nur der, die auch den Mut hatte, auf Distanz zu gehen. Zurück in Deutschland arbeitete Waberer in unterschiedlichen beruflichen Welten als Architektin, Galeristin und Journalistin, u.a. für die Zürcher Weltwoche und Kunstzeitschriften, für die sie Künstler wie Joseph Beuys, Keith Haring und  Ed Kienholz interviewte.

Heute lebt sie als freie Schriftstellerin in München und das produktive Interesse für das Werk der anderen scheint geblieben: Waberer setzt sich lehrend mit der Mechanik des Schreibens auseinander. Sie war früh Gastdozentin in Essen, lehrte seit 1989 Creative writing an der Hochschule für Film und Fernsehen München, später auch bei den Textwerk-Seminaren des Literaturhauses München und beim Manuskriptum-Kurs für Kreatives Schreiben an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Mehrfachbegabung von höchster Sensibilität

Die Jury zum Münchner Literaturpreis, mit dem Waberer 2011 ausgezeichnet wurde, lobte ihre Mehrfachbegabung von höchster Sensibilität und meisterlicher Gestaltung: »Aus scheinbar flüchtigen Alltagsszenen zieht sie die Kraft eines Märchens oder einer Parabel und versetzt ihre Leser in aufklärendes Erstaunen.« Ihr Thema sei »die nimmermüde Suche nach Liebe und Glück: das Drama des alltäglichen Lebens, in dem sich Sehnsucht und Eifersucht, Erotisches und Melancholisches, Komisches und Bedrohliches mischen. Keto von Waberer ist eine Autorin, deren Werke ergreifen oder erheitern, oft beides gleichzeitig.«

Waberers neuer Roman ist wieder ein solches Buch. Ihr Held Mingus ist ein Wesen, das sich allen Bezeichnungen entzieht und dadurch provoziert. Die Ohren spitz, die Mähne lockig, die Schulter dicht behaart. Es zwingt zur hilflosen Etikettierung: ein Wunder sei er, sagen die einen, die anderen halten ihn für den neuen Messias, die dritten für eine mörderische Waffe, die es zu vernichten gilt. Eine Anomalie, die Vielen Angst macht. Die alte, erfahrene Tara rührt sie: »Wie schön er ist. Ein wahres Wunder, diese schlafende Chimäre!« Sie erklärt ihm, dass er ein einmaliges Wesen sei, in Teilen Mensch, in Teilen Löwe, im Reagenzglas hergestellt. Auch in der zukünftigen Welt, in der die Geschichte spielt – eine Welt, in der Kurzsichtigkeit oder Diabetes längst Vergangenheit sind, in der die Häuser auf jeden gesprochen oder gedachten Wunsch ihrer Bewohner reagieren – ist das eine seltene Tatsache, mit der Mingus umgehen lernen muss. Die Heftigkeit der Reaktionen kann er nicht kalkulieren. Er verfängt sich ihn ihnen wie in einem Netz, so verhängnisvoll wie das tatsächliche, mit dem er schließlich gefasst wird.

Es heißt, er hätte Nin entführt, der niemand glaubt, als sie beteuert, dass Mingus ihr Retter sei. Wochenlang war Mingus mit ihr, die für ihn sein kleiner Bruder ist, frei durch die Landschaft gestreift. Berührend schildert Waberer die »Geschwisterliebe« zwischen den beiden: Die Obhut, in die er sie während des Schlafes nimmt (»Wir rasten, an einen Stein gelehnt. Er schläft. Ich nicht.«), das Urvertrauen, mit der sie sich in seine Obhut des begibt (»Der Kleine zittert und lässt sich anfassen und zurechtrücken an mir.«),  Mingus’ Fürsorge (»Ich trage alle unsere Sachen, er hat genug damit zu tun, sich selber zu tragen.«). Umso erschreckender die Trennung der beiden, als Mingus gestellt wird: Sie nehmen ihm »den Bruder«, Mingus wird betäubt.

Rostrote Zärtlichkeit, grüne Empörung

Beeindruckend sinnlich vermittelt sie die Sinneswahrnehmungen des Wunderwesens, etwa als Mingus zum ersten Mal seit langem wieder Regen auf seinem Fell spürt oder Wasser riecht: »Wasser kann ich riechen. Es riecht gut, eben wie Wasser riecht – hellgrün.« Immer wieder sind Farben, die Mingus’ Empfindungen einfangen, etwa als Nin, die ihm sehr nahe kommt, seine nonverbalen Laute deutet und beschreibt: »Braune Zufriedenheit. Blaue Ungeduld. Rostrote Zärtlichkeit. Grüne Empörung. Gelbe Wut. Das schönste Knurren hat noch keinen Namen. Ich höre es nur, wenn wir uns ganz nahe sind und nachts. Vielleicht Samtschwarz?«

Die Frage, ob tatsächlich eine latente Gefahr von ihm ausgeht, in dem die Wut hockt wie ein Schmerz, bleibt offen und flirrt über die Geschichte wie grell ausgeleuchtete Sommerluft. Mingus. Ein Wunder von einem Helden, ein Wunder von einem Buch.

Keto von Waberer: Mingus. Roman. dtv premium, 2012. 300 Seiten. 14,90 Euro – Foto: Heike Bogenberger

 

Die Kommentarfunktion ist geschlossen.